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Fiscal Cliff oder doch eher Bungee Cliff ?

Börsen-Zeitung, 14.12.2012 Die amerikanische Präsidentschaftswahl hat in Deutschland maximales Interesse gefunden. 92 Prozent aller Deutschen hätten für Barack Obama gestimmt: Niemals zuvor hat ein amerikanischer Präsident größeren Rückhalt in der...

Fiscal Cliff oder doch eher Bungee Cliff ?

Die amerikanische Präsidentschaftswahl hat in Deutschland maximales Interesse gefunden. 92 Prozent aller Deutschen hätten für Barack Obama gestimmt: Niemals zuvor hat ein amerikanischer Präsident größeren Rückhalt in der deutschen Bevölkerung gehabt. Allerdings besteht für den alten und neuen Präsidenten kein Grund zum Feiern, denn seine Regierung und damit das ganze Land stehen vor dem “Fiscal Cliff”, wie die fiskalische Notbremse in den USA genannt wird. Wenn sich die Parteien, die gerade einen bitterbösen Wahlkampf gegeneinander ausgefochten haben, nicht auf Einnahmeverbesserungen oder Ausgabenkürzungen einigen können, dann wären im Extremfall ab dem 1. Januar 2013 automatische Budgetkürzungen in Höhe von über 600 Mrd. Dollar fällig. Dem Land drohen ein scharfer Rückfall in die Rezession und ein Anstieg der Arbeitslosigkeit in vielleicht sogar zweistellige Dimensionen. Die Finanzmärkte sind nervös, die Ratingagenturen hellhörig. Doch wie wahrscheinlich ist dieses Szenario wirklich? Werden die Amerikaner sehenden Auges in den Abgrund springen?Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Vereinigten Staaten der größte Schuldner der Welt sind. Wie die Griechen in Europa leiden sie seit Jahrzehnten unter einem Zwillingsdefizit, also dem zeitgleichen Haushalts- und Leistungsbilanzdefizit. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht in Sicht, denn die Bush-Administration häufte durch diverse militärische Abenteuer bei gleichzeitigen Steuersenkungen ein großes Defizit an, während die Obama-Administration ganz im Sinne von Keynes mit defizitfinanzierten Konjunkturprogrammen arbeitet. Die amerikanische Finanzverfassung sieht jedoch eine maximale Verschuldung vor: Wird diese überschritten, so treten automatische und lineare Haushaltskürzungen (Haircuts) in Kraft. Dann könnte es geschehen, dass öffentliche Schulen, Kindergärten oder Naturparks geschlossen und die Mitarbeiter nach Hause geschickt werden. Die ohnehin schwache amerikanische Konjunktur würde einen weiteren Rückschlag erleiden. USA tief gespaltenEin Absturz über die fiskalische Klippe ist aber nicht im Interesse der beiden großen Parteien, weshalb damit zu rechnen ist, dass im Zweifel in letzter Minute ein Kompromiss gefunden werden wird. Allerdings zeigt sich wieder einmal in aller Deutlichkeit, dass das Land politisch zutiefst gespalten ist. Noch vor wenigen Jahren sah man es als große Stärke des amerikanischen Wahlsystems an, dass es klare und eindeutige Ergebnisse liefert. Ein amerikanischer Präsident muss keine Koalition schmieden, sondern er kann nach der Wahl mit großer Macht regieren, selbst wenn er die Wahl nur hauchdünn gewonnen hat. Die Kompromissbereitschaft der Opposition, im Zwei-Kammer-System wichtige Voraussetzung für das Funktionieren des legislativen Prozesses, ist in den letzten Jahren jedoch fast vollkommen verloren gegangen. Die Spaltung des Landes und das Aufkommen von extremen Parteien wie der Tea Party, die den Staat quasi vollkommen ablehnen, wäre früher eher ein Thema für ein politisches Seminar an der Universität gewesen. Heute steht es im Zentrum des Interesses an den internationalen Kapitalmärkten.Die amerikanische Spaltung zeigt sich auch in der wissenschaftlichen Beratung. So hat sich in den USA die Unterscheidung in Saltwater Economics versus Sweetwater Economics (oder Freshwater Economics) etabliert. Die Salzwasserökonomen, die an den großen Universitäten in Kalifornien und an der Ostküste lehren, sind Anhänger keynesianischer Ideen. Die Süßwasserökonomen, beheimatet an den Universitäten im Inneren des Landes in der Nähe der großen Seen, etwa die renommierte University of Chicago, sehen den Staat äußerst kritisch und wollen primär durch Steuersenkungen die wirtschaftliche Aktivität ankurbeln. Gefahr des “Sudden Stop”Präsident Obama und sein Widersacher im Repräsentantenhaus, John Boehner, werden aufeinander zugehen. Während Obama Steuererhöhungen als Einnahmeverbesserung fordert, sind diese für die Republikaner und erst recht für die Tea Party ein Tabu. Eine frühe Einigung ist nicht wahrscheinlich, vermutlich wird der Poker bis in den letzten Stunden gehen. Das Szenario eines vollkommenen Absturzes ist aber sehr unwahrscheinlich. Realistischer erscheint die Möglichkeit des “Bungee Cliffs”, also des kurzfristigen Absturzes mit drastischen Markteinbrüchen und schnell zurückkehrender Kompromissbereitschaft oder aber ein schmutziger Kompromiss, der zeitgleich Steuererhöhungen und Leistungseinschnitte vorsieht und damit heilige Kühe beider Parteien schlachtet. Vom ordnungspolitisch wünschenswerten Ziel eines ausgeglichenen Haushalts bleiben die USA aber wohl meilenweit entfernt.Die fiskalische Klippe ist, ordnungspolitisch betrachtet, kein schlechtes Instrument. Man wünschte sich, die Griechen hätten schon früher eine automatisch wirkende Bremse gehabt, um den Ausgabenrausch zu stoppen. Allerdings ist auch die amerikanische Fiskalbremse nicht wirklich glaubwürdig, weil beide Parteien – wenn sie denn kompromissfähig sind – gemeinsam eine weitergehende Verschuldung beschließen könnten. Solange noch genügend institutionelle und private Investoren amerikanische Staatsanleihen kaufen, kann die Verschuldung ungebremst weitergehen. Wenn die Chinesen aber vielleicht zukünftig nicht mehr in amerikanische Anleihen, sondern im eigenen Land investieren, könnte es für die Amerikaner schwierig werden, ihre Anleihen noch am Kapitalmarkt zu platzieren. Der sogenannte Sudden Stop, also das unvermittelte Abreißen der Finanzierungsbereitschaft, könnte auch die USA treffen: Hierin liegt die eigentliche Gefahr.—-Prof. Dr. Dirk Wentzel lehrt Volkswirtschaft und Europäische Wirtschaftsbeziehungen an der Hochschule Pforzheim und ist Inhaber des Jean-Monnet-Lehrstuhls der Europäischen Kommission. In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft.——–Von Dirk Wentzel ——-Schlimmer als die fiskalische Klippe wäre das plötzliche Abreißen des Finanzierungsstroms am Kapitalmarkt.