LEITARTIKEL

Fracksausen in Peking

Es ist etwas faul im Staate China. An den Märkten macht sich wachsende Unruhe über exzessive Schuldenlasten im Reich der Mitte breit, und zwar nicht nur im Zusammenhang mit dem Anstieg von faulen Krediten bei den Großbanken oder sich häufenden...

Fracksausen in Peking

Es ist etwas faul im Staate China. An den Märkten macht sich wachsende Unruhe über exzessive Schuldenlasten im Reich der Mitte breit, und zwar nicht nur im Zusammenhang mit dem Anstieg von faulen Krediten bei den Großbanken oder sich häufenden Zahlungsausfällen von Bondemittenten. Angesichts einer Latte von Parametern, mit denen die Schulden bei Unternehmen, Privaten und Gebietskörperschaften oder die Neukreditvergabe und Schattenbankfinanzierungen in Bezug zu Bruttoinlandsprodukt (BIP) und anderen Größen gesetzt werden können, ist es nicht ganz einfach, den Finger in die Wunde zu legen. Dass es eine Wunde gibt, zeigt die jüngste Tonlage in chinesischen Staatsmedien. Während sie sich üblicherweise eher entrüstet mit sporadisch eintreffenden Warnungen des Internationalen Währungsfonds (IWF), der Ratingagenturen oder ausländischer Analysten auseinandersetzen, werden nun auch warnende Stimmen laut.Für Aufregung sorgt jetzt die Parteizeitung “People’s Daily”. In einem ganzseitigen Interview mit einer nicht genannten “Autoritätsperson” finden sich ungewöhnlich deutliche Verweise auf ein drohendes Verschuldungsproblem und die Notwendigkeit, die notleidenden Kredite im Bankensystem zu verarbeiten. Dabei wird ein hohes Leverage als “Erbsünde” bezeichnet, das zu wachsenden Risiken auf Aktien-, Anleihen- und Devisenmärkten, im Immobiliensektor und im Kreditwesen führe. Es geht also um die volle Bandbreite systemischer Finanzstabilitätsrisiken.Die Stimme aus dem Off – man vermutet, dass es sich um Staatspräsident Xi Jinping oder ein hochrangiges Mitglied im Politbüro handelt – betont jedenfalls, dass ein Abbau des Verschuldungsgrads (Deleveraging) Vorrang vor einem kurzfristigen Konjunkturschub haben müsse, und wehrt sich gegen die “Fantasie”, dass die chinesische Wirtschaft mit einer anhaltenden monetären Lockerung gefahrlos stimuliert werden könne. Wer die Mechanismen der politischen Willensbildung in China und ihren Transport in staatlichen Medien kennt, weiß dies als schwergewichtige Botschaft zu deuten. Peking bekommt Fracksausen in Sachen monetäre Impulse und Auswirkungen auf die Finanzstabilität. Entsprechend ist auch Chinas Aktienanlegern der Schreck in die Glieder gefahren, denn sie vermuten, dass sie ihre Hoffnungen auf weitere Leitzinssenkungen erst einmal begraben können. Die Einsicht, dass Deleveraging nottut, hat auch Konsequenzen für den Konjunkturverlauf in diesem wie auch den kommenden Jahren. Das erste Quartal hat eine gewisse Stabilisierung gebracht, allerdings zum Preis weiter anziehender Verschuldungsrelationen.Will man so nicht weitermachen, ist die Vorstellung, dass sich Chinas Wirtschaftswachstum nach anhaltender Abkühlung rasch erholt oder langsam wieder anzieht – in grafischer Darstellung entspricht dies einem Kurvenverlauf, der einem V beziehungsweise einem U ähnelt -, kaum noch haltbar. Eher sieht es nach einem L aus, was heißen soll, dass dem Wachstumsrückgang ein langer Seitwärtstrend folgt. Dass es nicht viel weiter nach unten gehen darf, ist quasi staatsverordnet. Der im Frühjahr verabschiedete Fünfjahresplan 2016 bis 2020 verlangt, dass man zum Dekadenwechsel eine “moderat wohlhabende Gesellschaft” mit einem von 2010 bis 2020 verdoppelten Pro-Kopf-Einkommen vorfindet. Um das zu erreichen, wurde eine praktisch unverrückbare Zielmarke mit einem durchschnittlichen jährlichen BIP-Wachstum von mindestens 6,5 % in der Fünfjahresperiode gesetzt. Zuletzt war man im ersten Quartal bei 6,7 % angelangt, es gibt also kaum Spielraum nach unten.Wenn Deleveraging tatsächlich zum Gebot der Stunde für Pekings Wirtschaftslenker wird, reduziert sich auch das Spektrum für Stimulierungsmöglichkeiten. Es bleiben fiskalische Impulse im Rahmen einer maßvollen Erhöhung des Budgetdefizits, gezielte Förderung der Belange der New Economy sowie harte strukturpolitische Maßnahmen zur Reform der Staatsunternehmen und Reduzierung der Überkapazitäten. Diese pflegen allerdings zunächst Wachstumseinbußen und erst später sichtbare Effizienzschübe mit sich zu bringen. Wie die Rechnung genau aufgehen soll, ist noch unklar. Es ist aber dringend notwendig, Chinas Verschuldungsproblematik offensiver anzugehen. Sonst wird der laufende Fünfjahresplan nämlich nicht im Zeichen der Prosperitätsfortschritte einer moderat wohlhabenden Gesellschaft stehen, sondern eines Finanzsystems, das einem bis 2020 um die Ohren zu fliegen droht.——–Von Norbert HellmannChinas Parteiführung räumt seit neuestem der Bekämpfung einer exzessiven Verschuldung höchste Priorität ein. Das hat Folgen für den Konjunkturverlauf.——-