NOTIERT IN WASHINGTON

Fragwürdiger Umgang mit der Pandemie

Der Umgang der USA mit der Corona-Pandemie scheint von außen betrachtet recht willkürlich. Staaten, in denen die Erkrankungen weiter steigen, öffnen trotzdem ihre Wirtschaft. Nun sagen neue Studien voraus, dass wegen der Lockerung von...

Fragwürdiger Umgang mit der Pandemie

Der Umgang der USA mit der Corona-Pandemie scheint von außen betrachtet recht willkürlich. Staaten, in denen die Erkrankungen weiter steigen, öffnen trotzdem ihre Wirtschaft. Nun sagen neue Studien voraus, dass wegen der Lockerung von Ausgangsbeschränkungen bis Anfang Juni täglich bis zu 3 000 Amerikaner sterben könnten. Die Zahl der Toten könnte demnach in den USA insgesamt 135 000 erreichen, prognostizieren Experten der Johns-Hopkins-Universität und der University of Washington.Obwohl das Dokument seit Montag auch dem Weißen Haus vorliegt, will Präsident Donald Trump von den düsteren Szenarien nichts wissen. “Die Voraussagen beruhen auf der Annahme, dass keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden”, sagte er. Die USA würden mehr Coronatests durchführen als jede andere Nation, fuhr er fort, und außerdem sollten “die demokratischen Taugenichtse und die lahmen Medien stolz sein auf die USA, anstatt uns ständig niederzumachen”.Doch die Realität ist eine andere. So berücksichtigen die Studien in der Tat vorhandene Kontaktbeschränkungen und andere Maßnahmen. Aus den Berichten leitet die Gesundheitsbehörde Centers for Disease Control (CDC) jedenfalls weitere, beängstigende Prognosen ab: Dass nämlich bis nächsten Monat die Infektionen von derzeit 25 000 auf 200 000 pro Tag klettern werden.Und während der Präsident damit recht haben mag, dass die USA mittlerweile absolut betrachtet mehr Tests durchführen als andere Länder, nimmt sich die Zahl in Relation zur Gesamtbevölkerung weiterhin bescheiden aus. So sind bisher gerade einmal 2 % aller Amerikaner getestet worden. Folglich glauben Gesundheitsexperten, dass die Dunkelziffer, sowohl was die Infektionen als auch die Todesopfer anbetrifft, deutlich höher liegen könnte.Indes konzentriert sich der Präsident ungeachtet der ausufernden Krise vielmehr auf den Wahlkampf. Demokraten seien so sehr darauf bedacht, ihn am 3. November zu besiegen, “dass sie bereit sind, mehr Todesopfer in Kauf zu nehmen”, ist eine seiner Thesen. Dabei ist es kein geringerer als Trump selbst, der seit Wochen die Gouverneure unermüdlich drängt, dass die Staaten wieder zum Normalbetrieb zurückkehren sollen.Dies, obwohl nur die wenigsten der 38 Staaten, die ihre Beschränkungen gelockert haben, Trumps aufgestellte Voraussetzungen dafür erfüllt haben: nämlich 14 Tage ununterbrochen rückläufige Erkrankungszahlen. Der Präsident rechtfertigt die Verstöße, die er selbst provoziert, mit der Aussage, dass er “den Gouverneuren Freiheiten lassen will”. Trumps größte Sorge ist mit Blick auf die Wahl nämlich ein dramatischer Anstieg der Arbeitslosenquote. Am Freitag wird der offizielle Arbeitsmarktbericht für April veröffentlicht. Ökonomen erwarten einen Anstieg der Arbeitslosenquote von 4,4 auf 15 bis 20 %.Dass Mediziner eine voreilige Öffnung der Wirtschaft ablehnen, schert den Präsidenten kaum. So warnt etwa der Immunologe Anthony Fauci, dass die voreilige Aufhebung von Restriktionen “gewaltige Risiken mit sich bringt”. Die Ärztin Deborah Birx, ebenfalls aus dem Beraterteam des Präsidenten, nannte Bilder von Menschenmengen, die sich wieder an Kaliforniens und Floridas Stränden oder in New Yorks Central Park tummeln, “erschreckend”. Trump aber weist deren Rat nicht nur zurück, sondern verbietet den Experten obendrein, vor dem Repräsentantenhaus über die Gefahren der Pandemie auszusagen.Es verläuft mittlerweile ein tiefer Spalt zwischen Experten, die für ein behutsames Handeln plädieren, sowie dem Präsidenten und zahlreichen Gouverneuren, welche die Rückkehr zum Alltag übers Knie brechen wollen. Patrice Harris, die Vorsitzende des Ärzteverbandes American Medical Association, versucht zu vermitteln. Denn bei der Frage nach Ausgangsbeschränkungen und der Normalisierung der Wirtschaft “handelt es sich um kein Entweder-oder-Szenario”, so Harris. “Man muss vorsichtig und gemessenen Schrittes vorgehen”, betont die Medizinerin. Das könne unnötige Tode verhindern und die Wirtschaft wieder auf Trab bringen. Bei dem Tempo, mit dem das Weiße Haus und viele der Staaten jetzt vorgingen, werde die Opferzahl aber unweigerlich weiter steigen.