LEITARTIKEL

Französisches Paradoxon

Der Machtkampf um die von Präsident Emmanuel Macron geplante Rentenreform geht in die nächste Runde. Weder Regierung noch Gewerkschaften sind bereit, klein beizugeben. Zwar erklärte Premierminister Édouard Philippe nach zweitägigen Gesprächen mit...

Französisches Paradoxon

Der Machtkampf um die von Präsident Emmanuel Macron geplante Rentenreform geht in die nächste Runde. Weder Regierung noch Gewerkschaften sind bereit, klein beizugeben. Zwar erklärte Premierminister Édouard Philippe nach zweitägigen Gesprächen mit den Sozialpartnern, er glaube noch immer an eine mögliche Einigung über ein Punktesystem. Er verteidigte aber auch das sogenannte Gleichgewichtsalter von 64 Jahren, das die im System bestehende Lücke schließen soll. Deshalb soll es künftig Abschläge für diejenigen geben, die früher in Rente gehen. Dadurch wird das Renteneintrittsalter von nun 62 Jahren zwar de jure nicht erhöht, de facto jedoch sehr wohl – Arbeitnehmer, die jünger als 20 Jahre einen Beruf ergreifen oder sehr beschwerliche Arbeiten verrichten, sind ausgenommen. Für reformaufgeschlossene Gewerkschaften, wie die CFDT, hat die Regierung mit dieser Ankündigung eine rote Linie überschritten.Die Streiks dürften über die Feiertage weitergehen, da die linke Gewerkschaft CGT die Lokführer dazu aufgerufen hat. Es hat sich bereits in den ersten zwei Streikwochen gezeigt, dass eine Minderheit für Chaos sorgen, den Zugverkehr im ganzen Land beeinträchtigen und den öffentlichen Nahverkehr im Großraum Paris nahezu lahmlegen kann. Eigentlich beteiligt sich nur ein kleiner Teil der Mitarbeiter der staatlichen Bahn SNCF und des Pariser Nahverkehrsbetreibers an dem Arbeitskampf, doch bei den Lok- und Metroführern sind sie in der Mehrzahl.Macron setzt nun auf einen Ermüdungseffekt. Er weiß, dass die Streikkassen nicht ewig reichen und auch die Bereitschaft der Bevölkerung, den Streik hinzunehmen, schwinden wird. Diese Taktik könnte sich auszahlen, denn die Gewerkschaft SUD Rail plädiert nun für einen Waffenstillstand über die Feiertage. Sie war bisher neben der CGT eine der treibenden Kräfte des Streiks. Und die reformaufgeschlossene Gewerkschaft CFDT, die am 17. Dezember erstmals zusammen mit den anderen Organisationen gegen die Rentenreform protestierte, will sich nicht an einem neuen Aktionstag am 9. Januar beteiligen, zu dem andere Gewerkschaften aufgerufen haben.Viele französische Gewerkschaften sind vom Denken her noch immer in einem alten Klassenkampf-Schema verfangen. Mitbestimmung haben sie lange Zeit komplett abgelehnt. Stattdessen war der Arbeitskampf in Frankreich, das innerhalb Europas den niedrigsten gewerkschaftlichen Organisationsgrad aufweist, lange das wichtigste Mittel, um Forderungen durchzusetzen. Erst wird gestreikt, dann verhandelt, lautete das Motto. Gewerkschaften, aber auch ein Teil der Bevölkerung glauben deshalb, dass Macron ihnen nach mehr als zwei Wochen Streiks wichtige Zugeständnisse, wenn nicht gar die Rücknahme der Reform schuldig sei.Dabei verkennen sie jedoch, dass Macron entschlossen ist, in Frankreich längst überfällige Reformen durchzuführen. So wie eben die Zusammenlegung der 42 verschiedenen Rentenkassen in einem System, wodurch auch die sogenannten Spezialrenten abgeschafft werden. Sie wurden vor langer Zeit für beschwerliche Berufe eingeführt, etwa für Lokführer, die einst noch Kohlen schaufeln mussten. Sie sichern einer kleinen Gruppe von Berufsgruppen bei staatlichen Unternehmen wie der Bahn SNCF, dem Metrobetreiber RATP und dem Versorger Engie Privilegien, üppige Renten und ein besonders frühes Renteneintrittsalter. Allein die Spezialrenten dieser drei Unternehmen kosten den Staat jährlich 5,5 Mrd. Euro.——Von Gesche WüpperViele französische Gewerkschaften sind vom Denken her noch immer im Klassenkampf-Schema verfangen.——