Freidemokraten am Polit-Pranger

Von Stephan Lorz, Frankfurt Börsen-Zeitung, 22.11.2017 Die Finger gehen stets in die eine Richtung: FDP-Chef Christian Lindner ist der Buhmann! Er habe das Scheitern der Jamaika-Verhandlungen verschuldet und Deutschland in eine Regierungskrise...

Freidemokraten am Polit-Pranger

Von Stephan Lorz, FrankfurtDie Finger gehen stets in die eine Richtung: FDP-Chef Christian Lindner ist der Buhmann! Er habe das Scheitern der Jamaika-Verhandlungen verschuldet und Deutschland in eine Regierungskrise gestürzt. Dabei sei doch alles auf bestem Wege gewesen – auch die zentralen FDP-Forderungen, heißt es unisono von den Verhandlungspartnern, seien bereits eingetütet gewesen. Dass Lindner angesichts dessen gleichwohl die Reißleine gezogen hat, zeige nur, dass ihm Parteitaktik vor Staatsverantwortung gehe. Er habe das Gemeinwohl verraten, dem doch alle Parteien verpflichtet seien. Tatsächlich?Tatsächlich ist viel Verlogenheit im Spiel. Waren etwa noch am Samstag vielstimmige Klagen aus der Wirtschaft zu hören, dass es den Jamaika-Verhandlern doch allein darum gehe, möglichst viel Geld auszugeben und ihre Klientel mit Wahlgeschenken zu überhäufen, statt ein in sich konsistentes Zukunftsprogramm zu zimmern, wurde der FDP schon am Montag von Wirtschaftsvertretern vorgeworfen, dass sie aus diesen Gründen eine potenzielle Jamaika-Koalition hat platzen lassen. Die “Fortschritte” der Verhandler wurden plötzlich in schönsten Farben beschrieben.War dem aber wirklich so? Brauchte es tatsächlich nur noch einen Wimpernschlag, um die Jamaika-Koalition zu besiegeln? Die TV-Debatte am Montagabend bei “Hart aber fair” in der ARD hat aufscheinen lassen, dass etwa die Grünen mitnichten von ihren Extremforderungen beim Familiennachzug für subsidiär schutzberechtigte Zuwanderer auch nur ansatzweise gelassen hätten. Simone Peter, Bundesvorsitzende der Grünen, stellte klar, dass die Partei künftig nicht ein Jota von ihrer Haltung abweichen werde. Der eingegangene Formelkompromiss, wie ihn auch die FDP kritisiert, war also nur Fassade. In den Jahren der Regierung wäre dieses Thema immer wieder aufgebrochen. Vertrauensvolle Zusammenarbeit sieht anders aus.Auch wird derzeit vielstimmig die “Kompromissfähigkeit” der Parteien beschworen, und der FDP diesbezüglich geradezu Unfähigkeit zu demokratischen Gepflogenheiten vorgeworfen. Dabei haben oft die gleichen Autoren in den Kommentarspalten zuvor noch kritisiert, dass den Parteien zunehmend das programmatische Rückgrat fehle, ihnen die Unterscheidbarkeit abhandengekommen sei, sie ihren ideologischen Kern und damit auch ihre Existenzberechtigung zu verlieren drohten. Alles nur, so wird ihnen unterstellt, um irgendwelche Ministerämter zu ergattern.Die Metamorphose der CDU von einer konservativen Partei zu einem pragmatischen Merkel-Wahlverein wurde als Beleg für diese Entwicklung hin zur Gesichtslosigkeit angeführt. Sozialforscher sagen schon seit längerem, dass diese amorphe Beliebigkeit zur Verbreiterung der Parteienränder – und damit auch zum Aufwuchs der AfD – beigetragen hat. Die FDP hat sich indes auf ihre programmatischen Wurzeln besonnen und lässt sich nicht in die Beliebigkeit treiben. Und inzwischen räumen sogar die Grünen ein, mehrfach an Abbruch gedacht zu haben. So abwegig ist das Verhalten der FDP also gar nicht gewesen angesichts der obwaltenden Umstände. Gern wird der FDP auch ein gewisser Personenkult um Lindner vorgeworfen, als ob in den anderen Parteien derlei völlig unbekannt wäre. Man denke nur an Bundeskanzlerin Angela Merkel, welche die CDU nach ihrem Gusto zuschneidet. Oder an den Tag, als die SPD Martin Schulz als “Retter der Partei” huldigte. Der Szenerie hafteten schon fast bigotte Züge an.Wer FDP-Chef Lindner im selben Atemzug vorwirft, sich mit seinem Exit aus den Jamaika-Verhandlungen rein parteitaktisch verhalten zu haben, ihm zugleich aber schadenfroh attestiert, dass dieser mit seiner Entscheidung doch nur seiner Partei selber schade, müsste erkennen, dass das eine das andere ausschließt. Es sei denn, er geht davon aus, dass es die Absicht Lindners ist, die FDP wieder aus dem Bundestag herauszuschießen.Die Schuldfrage für das Scheitern der Jamaika-Verhandlungen scheint in großen Teilen der Öffentlichkeit klar. Doch etwas mehr Selbstreflexion über vorher Gesagtes und etwas weniger Doppelmoral und Hetze wären in diesen Zeiten, da es um unsere demokratischen Grundüberzeugungen geht, durchaus angebracht. Selbst wenn der FDP eine gewisse kalkulatorische Inszenierung unterstellt werden kann – die anderen Parteien stehen den Liberalen darin nicht nach. ——–Was die Geißelung von FDP-Chef Christian Lindner wegen seines Austritts aus den Jamaika-Verhandlungen über den Zustand der deutschen Parteiendemokratie verrät.——-