NOTIERT IN LONDON

Freiheit, die ich meine

Kaum geht die Zahl der Covid-19-Toten in Großbritannien etwas zurück, wenden sich die Protagonisten des "Nanny State" wieder ihren Lieblingsprojekten zu. Der Kampf gegen die Fettleibigkeit zählt seit eh und je zu den beliebtesten Themen der Kämpfer...

Freiheit, die ich meine

Kaum geht die Zahl der Covid-19-Toten in Großbritannien etwas zurück, wenden sich die Protagonisten des “Nanny State” wieder ihren Lieblingsprojekten zu. Der Kampf gegen die Fettleibigkeit zählt seit eh und je zu den beliebtesten Themen der Kämpfer für die Volksgesundheit. Sie sei “sehr, sehr besorgt”, dass es zu einer zweiten Welle von Erkrankungen kommen könnte, sagte Jenny Harries, die als stellvertretender Chief Medical Officer ganz wesentlich für die desaströsen Zustände im englischen Gesundheitswesen verantwortlich ist. Man werde noch lange mit dem Virus leben müssen. Deshalb sollten die Leute abnehmen, um sich dafür fit zu machen. Fettleibigkeit sei ein Problem, gegen das man etwas tun könne. Das National Institute of Health and Care Excellence – ein unabhängiges Institut mit dem orwellschen Akronym NICE – empfahl Ärzten, übergewichtige Patienten zu Abnehmkursen wie etwa Weight Watchers zu schicken. Simon Stevens, der Chef von NHS England, forderte ebenfalls mehr Initiative gegen Fettleibigkeit. Schließlich zeigten Studien, dass das Risiko, an Covid-19 zu sterben, für Dicke größer sei.Nun ja, am größten war das Risiko, wenn man in ein Krankenhaus eingeliefert wurde oder in einem Pflegeheim lebte. In den Krankenhäusern entsprach die Sterberate von schwer an Covid-19 Erkrankten mit 35 bis 40 % der von Ebola-Patienten. Deshalb sollte man auch nicht auf alles hören, was Harries, Stevens & Co so sagen.Schatzkanzler Rishi Sunak tut es offenkundig nicht. Sonst hätte er nicht angekündigt, den Briten im August Restaurantbesuche zur Hälfte zu finanzieren, um dem Gastgewerbe unter die Arme zu greifen. Weil pro Kopf und Mahlzeit maximal 10 Pfund zugeschossen werden, müsste man für hochwertige Kost noch eine Menge drauflegen. Und so werden die meisten Nutzer des Rabatts wohl nicht das nächstgelegene Gesundheitsrestaurant ansteuern, sondern Ketten, die vor allem für die Nahrhaftigkeit ihres Angebots bekannt sind. Es sei “extrem wahrscheinlich”, dass man sich an Sunaks Programm beteiligen werde, sagte Alasdair Murdoch, der Chef von Burger King in Großbritannien. Dann gäbe es den Whopper von Montag bis Mittwoch für 2,25 Pfund. Da werden andere Fast-Food-Anbieter nicht nachstehen wollen. Und vielleicht ist es ja der letzte Rest Freiheit, den es in Lockdown Britain noch gibt, einen Eimer frittierte Hähnchenteile zu verdrücken und mit einer Flasche Cola nachzuspülen.Freiheit, die ich meine, wäre ein von Sunak subventionierter Besuch beim Ausnahme-Inder Dishoom. Doch müssten sich Shamil und Kavi Thakrar erst einmal dazu entscheiden, ihre Restaurants zu dem Programm anzumelden. Ihren Charme macht aus, dass sie sich an den iranischen Cafés orientieren, die es Anfang des 20. Jahrhunderts in Bombay gab. Weil diese versuchten, die Atmosphäre der Pariser Brasserien und Wiener Kaffeehäuser nach Indien zu bringen, wirkt das Ambiente merkwürdig vertraut. Die Authentizität der Küche besteht gerade darin, sich bei anderen Kulturen zu bedienen, ohne dabei in die Beliebigkeit irgendwelcher Fusion-Gerichte abzudriften. Das ist in einer Zeit, in der bei jeder Gelegenheit Vorwürfe der “kulturellen Aneignung” erhoben werden, besonders erfrischend. “The Big Bombay” auf der Frühstückskarte ist eine interessantere Version des “Full English”, wie es in Großbritannien allerorten angeboten wird. Dass der “Dishoom Slaw” auf einen Kachumber-Salat der indischen Küche zurückgeht, braucht man nicht zu wissen, um den Krautsalat zu lieben.Shamil ist allerdings auch kein gewöhnlicher Restaurantbesitzer. Er hat einen MBA der Harvard Business School, arbeitete als Berater für Bain und sammelte bei der Reismarke Tilda unternehmerische Erfahrung. Im vergangenen Jahr übernahm Ebro Foods das in den 1970er Jahren von seiner Familie gegründete Geschäft, das 2014 an Hain Celestial verkauft worden war. Shamil hatte die Klischees, die das Image von Indien in Großbritannien bestimmen, gründlich satt – von der Kolonialzeit über Bollywood bis zu den Curry-Buden. Er zahlt seinen Mitarbeitern mehr als den “London Living Wage” und zeigt, dass ein unverkrampftes Verhältnis zwischen den Kulturen möglich ist.