Ganz China schwelgt in den roten Zahlen
Auf den Aktientipp des Optikers kann man sich blind verlassen, er hat einen scharfen Blick für Markttendenzen, beim Taxifahrer sollte man zumindest Vorsicht walten lassen, der Gemüsehändler dagegen weiß nicht, wovon er redet. China ist vom Aktienfieber ergriffen, der scheinbar leichte Weg zum schnellen Geld lässt niemanden mehr kalt.In diesen Wochen verschwendet man wenig Zeit, über Wetter und Sport zu plaudern, und kommt lieber zum Wesentlichen. Im fieberhaften chinesischen Börsenboom gibt es nur noch ein Thema, bei dem jeder mitreden kann und mag, nämlich die Aktienanlage. Es scheint, als könne man nicht viel falsch machen. Von den über 3 000 an der Börse Schanghai gelisteten Aktien von hochsoliden Staatsunternehmen bis zu windigen Videospielentwicklern gibt es nur drei Stück, bei denen im bisherigen Jahresverlauf nicht die Post abgegangen ist.In den zigtausenden Dependancen der insgesamt 120 chinesischen Brokerhäuser, die in allen Städten zu finden sind und insbesondere Rentnern als Begegnungs- und Zeitvertreibungsstätte dienen, herrscht aufgeräumte Stimmung. Man trinkt Tee und starrt auf die riesigen Anzeigetafeln, auf denen Kursbewegungen aufblinken. Seit Monaten zeigen die Bildschirme fast durchweg rot und das ist gut so. Im Gegensatz zu allen anderen Handelsplätzen auf der Welt, wo rote Zahlen als Synonym für Verluste stehen, verwendet man die chinesische Lieblingsfarbe dazu, Gewinne anzuzeigen – und lässt dafür die Miesen in Grün aufblinken. *Es ist die Hausse des kleinen Mannes. China ist der einzige größere Aktienmarkt im Weltrund, auf dem nicht die institutionellen Investoren, sondern die Kleinanleger das Gros des Kapitals aufbringen und das Sagen haben. Und sie sagen seit Monaten Ja zur Aktienanlage, weil die Immobilienmärkte schwächeln und bei Gold auch nicht mehr viel geht. Die Konjunktur läuft zwar mieser denn je und die Unternehmensgewinne hinken hinterher, doch lohnt es sich nicht, über Fundamentaldaten zu unken. Solange die Meute weiter im Kollektiv Geld in den Aktienmarkt pumpt, steigen die Kurse, und weil sie steigen, wollen immer mehr mitmachen.Allein in der letzten Maiwoche sind 4,4 Millionen neue Wertpapierkonten eröffnet worden. Das Resultat kann sich sehen lassen, denn umgerechnet 10 Bill. Dollar sind kein Pappenstiel. Mitte Juni hat der Marktwert der auf dem chinesischen Festland notierten Aktien genau diese Marke erreicht. Vor genau einem Jahr waren es noch 3,3 Bill. Dollar. Das, was an Wert hinzugekommen ist, übersteigt deutlich die gesamte Börsenkapitalisierung in Japan – und die steht mit rund 5 Bill. Dollar für sich genommen für den drittgrößten Aktienmarkt weltweit. *Im Brillenladen an einer Einkaufsstraße in Schanghai wird jede Pause im Wechsel zwischen Sehtests, Auswahl von Brillenmodellen und Anpassung derselben gezielt für Aktien-Smalltalk verwendet. Der Optiker sammelt und filtert die vielen guten Ratschläge, die Kunden bei ihm abliefern, und steckt sie anderen zu, natürlich gespickt mit eigenen Tipps. Wer sie befolgt, kann darauf zählen, dass er zwischen Bestellung und Abholung eines gehobenen Nasenfahrrads den Kaufpreis längst wieder raus hat.Beim Optiker scheint das Geschäft zu brummen – vielleicht weil es wichtiger denn je ist, scharf sehen und grün und rot sauber auseinanderhalten zu können. In anderen Branchen hinterlässt der Börsenboom jedoch Kollateralschäden. Der Aktienmarkt erweist sich als eine riesige Pumpe, die verfügbares Einkommen absaugt und in Dividendentitel lenkt, anstatt es fröhlichen Konsumzwecken zukommen zu lassen. In die Röhre schauen die einschlägigen Anbieter von Luxusgütern und Limousinen. Gerade die Reichen haben derzeit Besseres zu tun, als sich ein schönes Leben zu machen. Wer mag schon gerade jetzt sein sauer Erspartes in eine Prada-Handtasche oder gar einen BMW stecken, wo es sich viel besser mit dem Anschwellen seines Wertapierkontos angeben lässt.