"Ganz normal, wenn wir nicht immer über alles einig sind"
Im Interview: Pablo Hernández de Cos
"Ganz normal, wenn wir nicht über alles einig sind"
Das EZB-Ratsmitglied über die Zukunft von Leitzinsen und Notenbankbilanz, kontroverse Debatten im EZB-Rat und neue Ideen der Bankenregulierer
Anders als die US-Notenbank Fed und die Bank of England diese Woche hat die Europäische Zentralbank (EZB) vergangene Woche ihre Leitzinsen erneut erhöht. Aber wie geht es weiter? Im Interview äußert sich Pablo Hernández de Cos, Gouverneur der spanischen Zentralbank, dazu – und zu anderen Themen, wie den Banken.
Das Interview führten Mark Schrörs und Thilo Schäfer. Eine längere Version finden Sie unter www.boersen-zeitung.de.
Herr Hernández de Cos, die Europäische Zentralbank (EZB) steckt in einem Dilemma aus zu hoher Inflation und zunehmenden Konjunkturrisiken. Was macht Ihnen aktuell mehr Sorge – die hartnäckige Inflation oder die rapide wirtschaftliche Verschlechterung?
Lassen Sie mich erläutern, wie wir die Aussichten einschätzen. Die Wirtschaft im Euroraum ist in der ersten Hälfte dieses Jahres weitgehend stagniert und blieb auch im dritten Quartal schwach. In den kommenden Quartalen werden wir wahrscheinlich ein geringes Wachstum erleben. Diese negativeren kurzfristigen Aussichten sind der Hauptgrund dafür, dass die EZB-Experten ihre Projektionen gesenkt haben und nun für den Zeitraum 2023 bis 2025 ein um 1% geringeres kumuliertes Wachstum erwarten. Dies ist eine erhebliche Abwärtskorrektur. Und die Risiken für diese Projektion sind eher nach unten gerichtet. Aber das Basisszenario ist nicht dramatisch, und eine Rezession wird nicht erwartet. Was die Inflation betrifft, so wurden die Projektionen für 2023 und 2024 leicht nach oben korrigiert, was jedoch hauptsächlich auf die höheren Energiepreise zurückzuführen ist. Für 2025 liegt die Projektion nun etwas niedriger, nämlich bei 2,1% und damit nahe an unserem Ziel. Und die Inflationsrisiken sind jetzt ausgeglichen. Meiner Ansicht nach haben die Entwicklungen seit Juni unsere Zuversicht gestärkt, dass sich der Inflationspfad bis 2025 in Richtung 2,0% bewegen wird.
Diese Zuversicht teilt nicht jeder. Was macht Sie so zuversichtlich?
Dafür gibt es mehrere Faktoren: Unsere Geldpolitik zeigt eine starke Wirkung und dämpft zunehmend die Nachfrage, was ein wichtiger Faktor ist, um die Inflation wieder auf das Zielniveau zu bringen. Und wie ich bereits erwähnt habe, wurden die Wachstumsaussichten nach unten korrigiert, und die Risiken sind eher abwärtsgerichtet. Hinzu kommt, dass die zugrundeliegende Inflation jetzt nachlässt, sodass wir endlich die Kurve bekommen zu haben scheinen. Außerdem entwickeln sich die zugrundeliegende Inflation und die Löhne wie erwartet. Nach den starken Reallohnverlusten im Jahr 2022 gibt es in der Tat einige Aufholeffekte bei den Löhnen, und wir gehen davon aus, dass sich dieser Aufholprozess in den Jahren 2024 und 2025 fortsetzen wird. Wenn sich die Löhne jedoch wie in den Projektionen erwartet verhalten und sich die Arbeitsproduktivität entsprechend ihrem früheren prozyklischen Muster erholt, dürfte dies zu einem moderaten Wachstum der Lohnstückkosten führen und daher mit einem allmählichen Rückgang der Inflation in Richtung unseres Ziels vereinbar sein. Gleichzeitig gehen die Gewinnmargen der Unternehmen, die 2022 erheblich gestiegen sind, zurück. Dies steht im Einklang mit der in den Projektionen enthaltenen Annahme, dass die Gewinnspannen vor dem Hintergrund höherer Löhne und einer geringeren Nachfrage als Puffer dienen. Natürlich gibt es Aufwärtsrisiken für die Inflation, insbesondere im Zusammenhang mit potenziell höheren Energiepreisen. Umgekehrt dürfte aber die schwächere Nachfrage den Preisdruck verringern.
Zuletzt haben sich aber einige Indikatoren für die längerfristigen Inflationserwartungen wieder etwas erhöht. Das macht Ihnen keine Sorge?
Wir müssen bei den Inflationserwartungen immer sehr wachsam sein. Ein wichtiger Punkt ist für mich jedoch, dass nach zwei Jahren sehr hoher Inflation die mittelfristigen Inflationserwartungen von Verbrauchern, professionellen Prognostikern und Marktteilnehmern gleichermaßen gut um unser 2-Prozent-Ziel verankert sind. Bei den längerfristigen Inflationserwartungen besteht eine offensichtliche Diskrepanz zwischen den umfragebasierten und den marktbasierten Messgrößen, wobei sich Erstere dem Ziel annähern und Letztere etwas höher bleiben. Diese Diskrepanz verschwindet jedoch im Wesentlichen, wenn man die in den marktbasierten Messgrößen enthaltene Inflationsrisikoprämie herausrechnet. Die echte Inflationserwartungskomponente, die in den beobachteten, aus Inflationsswaps abgeleiteten 5-Jahres-Terminkompensationen enthalten ist, beträgt im Wesentlichen 2%. Man sollte erwarten, dass die Inflationsrisikoprämie in Zeiten wie diesen ansteigt: wenn die Inflation immer noch hoch ist und das Wachstum gedämpft ist.
Sie befürchten also auch keine zweite Inflationswelle? Einige Beobachter sehen ein solches Risiko, wie in den 1970er Jahren, als vor allem die US-Notenbank Fed zu früh nachgegeben und die Teuerung damit noch mal befeuert hat. Aktuell legt der Ölpreis wieder zu.
Unsere Volkswirtschaften sind ganz anders strukturiert als damals, und auch die geldpolitische Reaktion ist eine ganz andere. Wir von der EZB haben unsere Leitzinsen um 450 Basispunkte angehoben, die stärkste und schnellste geldpolitische Straffung in unserer Geschichte. Wir sind fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass die Inflation rechtzeitig zu unserem Ziel zurückkehrt, und wir sind bereit, alle unsere Instrumente anzupassen. Wir tun dies ausdrücklich, um ein Szenario wie in den 1970er Jahren zu verhindern. Es ist jedoch wichtig, dass auch andere Politiken ihren Beitrag leisten. Wenn die Energiepreise sinken, müssen die Regierungen ihre Unterstützungsmaßnahmen für den Energiesektor zurückfahren, und sollte eine erneute Energiekrise neue fiskalische Unterstützungsmaßnahmen erforderlich machen, sollten diese viel gezielter sein. Die Behörden sollten auch Strukturreformen durchführen, um die Angebotsseite zu stärken. Im Einklang mit der Erklärung der Eurogruppe vom Juli und den von Experten der EZB erstellten Projektionen vom September sollte die Finanzpolitik für 2024 im gesamten Euroraum eher restriktiv sein. Dies ist unerlässlich, um zusätzlichen Preisdruck zu vermeiden, der andernfalls eine noch stärkere geldpolitische Reaktion erfordern würde.
Weiter Wachstum, wenn auch geringes, zugleich sinkende Inflation in Richtung Zielwert – würden Sie da von einer weichen Landung sprechen?
Wie ich bereits sagte, ist die Unsicherheit nach wie vor sehr groß und die Risiken sind erheblich. Aber ja, ich würde es eine weiche Landung nennen, wenn das Basisszenario der Projektionen eintritt.
Und dann braucht es auch keine weiteren Zinsschritte mehr?
Wir haben in dieser Hinsicht eine wichtige Aussage gemacht. Auf der Grundlage der heute verfügbaren Informationen und unter Verwendung einer Reihe von Analyseinstrumenten können wir sagen, dass das jetzt erreichte Zinsniveau, wenn es für eine ausreichend lange Zeit beibehalten wird, im Großen und Ganzen mit der Erreichung unseres mittelfristigen Inflationsziels vereinbar ist. Aber das ist eine bedingte Aussage. Wir sind auf der Grundlage der heutigen Informationen zu diesem Schluss gekommen. Die Unsicherheit bleibt hoch. Es könnte weitere Schocks geben, und unsere Reaktion darauf wird von deren Ursprung und Ausmaß sowie von ihren Auswirkungen auf die Inflationsaussichten abhängen.
Das heißt, der Zinsgipfel ist vermutlich erreicht, aber sicher ist das nicht?
Wir werden wachsam und datenabhängig bleiben. Lassen Sie mich zwei Beispiele nennen: Wenn sich die Risiken für das Wachstum bewahrheiten und es zu einem stärkeren Abschwung als erwartet kommt, werden wir natürlich darauf reagieren. Aber wir werden auch reagieren, wenn die Inflation höher ausfällt als erwartet, zum Beispiel aufgrund eines stärkeren Gewinn- oder Lohnwachstums.
In den vergangenen Jahren waren die EZB-Modelle nicht immer sehr akkurat. Können Sie guten Gewissens auf dieser Basis eine solche Aussage treffen?
Die Erstellung von Prognosen ist eine komplexe Aufgabe, bei der die Ergebnisse einer Reihe verschiedener Modelle mit dem Urteil von Experten kombiniert werden. Wirtschaftsmodelle sind sehr nützliche Instrumente, da sie auf soliden theoretischen und empirischen Grundlagen beruhen; und Experten bemühen sich sehr, sie zu entwickeln und anzupassen, um strukturelle Veränderungen in unseren Volkswirtschaften zu berücksichtigen oder das Verhalten der Akteure in einem sich verändernden Umfeld besser zu verstehen. Modelle sind jedoch per Definition vereinfachte Beschreibungen der Realität und umfassen daher möglicherweise nicht den großen Datensatz, der einer Prognose zugrunde liegt. Noch wichtiger ist, dass empirische Modelle auf historischen Regelmäßigkeiten beruhen, was ihre Genauigkeit angesichts außergewöhnlicher Schocks wie der Pandemie, der Versorgungs- und Energiekrise und dem Krieg in der Ukraine einschränken kann. Daher ist es die Aufgabe der Experten, aus der Prognoseleistung zu lernen und die neuen Daten und Annahmen mit den Modellergebnissen zu kombinieren, um die Prognosen zu verbessern. Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass die Fehler bei den BIP- und Inflationsprognosen trotz der gegenwärtigen großen Unsicherheit deutlich zurückgegangen sind. So hat sich beispielsweise die zugrundeliegende Inflationsrate, die Energie- und Lebensmittelpreise ausschließt, in den letzten Monaten im Einklang mit unseren Vorhersagen verändert.
Sind Sie glücklich damit, was die Märkte aus der Entscheidung gemacht haben? Sie spekulieren verstärkt auf Zinssenkungen. Das bedeutet lockerere Finanzierungsbedingungen, was die restriktive Geldpolitik konterkariert.
Was die Marktreaktionen angeht, so möchte ich betonen, dass man bei der derzeitigen Preisgestaltung für die Zinssätze zwei Dinge sieht: Persistenz, da in der Kurve der Terminzinssätze viel Trägheit eingepreist ist, und Inversion, da erwartet wird, dass die Leitzinsen trotz der Trägheit stetig auf ein viel niedrigeres Niveau sinken werden. Die Trägheit spiegelt unsere Aussage wider, „dass die EZB-Leitzinsen so lange wie erforderlich auf ein ausreichend restriktives Niveau festgelegt werden". Die Inversion spiegelt die Überzeugung der Märkte wider, dass die Inflation weiter sinken wird und dass bei einer Rückkehr der Inflation zum Zielwert auch die Zinsen angepasst werden. Sie sehen, dass das derzeitige Niveau unserer Leitzinsen restriktiv ist, also messbar höher als neutral. Wenn die Inflation zurückgeht, ist es realistisch zu erwarten, dass die Leitzinsen wieder auf ein neutrales Niveau gesenkt werden. Sowohl die Persistenz als auch die Inversion sind meines Erachtens beruhigende Merkmale der heutigen Zinserwartungen, da sie zeigen, dass die Märkte glauben, was wir sagen: Wenn sich nichts ändert, werden die Zinssätze so lange auf einem ausreichend restriktiven Niveau gehalten, wie es notwendig ist, um die Aufgabe zu erfüllen. Dies ist übrigens genau ein automatischer Anpassungsmechanismus der Marktbedingungen, der in den 1970er Jahren fehlte. Damals dauerte es Jahre, bis die Marktzinsen auf ein Niveau stiegen, das restriktiv genug war, um die Inflation zu senken.
Und wie lange ist „lang genug“?
Das ist eine sehr schwierige Frage und kann nicht im Voraus beantwortet werden. Das hängt davon ab, ob sich die Inflation und das Wachstum so entwickeln, wie es prognostiziert wurde. Aber es ist sicherlich zu früh, um jetzt über Zinssenkungen zu sprechen.
Zu früh, darüber zu sprechen, aber die Markterwartung ist nicht unrealistisch?
Nach den heutigen Informationen können wir Zinssenkungen sicherlich nicht ausschließen. Aber ich will und kann sie auch nicht bestätigen. Wie ich schon sagte, ist die Unsicherheit noch sehr groß.
EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat eingeräumt, dass die Zinserhöhung nur von einer „soliden Mehrheit“ gestützt worden ist – was auf einige Gegenstimmen hindeutet. Ist es ein Problem, wenn der EZB-Rat in einer so kritischen Zeit als nicht geeint erscheint?
Gibt es nur Einigkeit, wenn Einstimmigkeit herrscht? Es ist ganz normal, wenn wir nicht immer über alles einig sind. Das gilt umso mehr, wenn die Unsicherheit so groß ist. Ich finde es wichtig und gut, dass wir unterschiedliche Ansichten haben und offen diskutieren. Wie Präsidentin Lagarde jedenfalls auf der Pressekonferenz sagte, "glauben Sie nicht, dass wir eine antagonistische, kontradiktorische Diskussion geführt haben". Am Ende treffen wir eine Entscheidung und verteidigen sie gemeinsam.
Und spielen nicht auch nationale Gegebenheiten und Befindlichkeiten rein? In Spanien etwa werden die Zinserhöhungen sehr kritisch gesehen wegen der Folgen für die Hypotheken.
Als Mitglieder des EZB-Rats handeln die Zentralbankpräsidenten nicht als nationale Vertreter oder Vertreter ihrer jeweiligen Zentralbank, sondern in ihrer persönlichen und unabhängigen Eigenschaft mit der Pflicht, im Interesse des gesamten Euroraums zu handeln. Wir können nicht die manchmal sehr spezifischen Umstände in allen Ländern berücksichtigen. Das ist gegebenenfalls Sache der nationalen Politik.
Wir haben jetzt viel über die Zinsen gesprochen. Zugleich fährt die EZB ihre durch die Anleihekäue aufgeblähte Bilanz herunter. Braucht es da mehr Tempo, wie einige Ihrer Kollegen im EZB-Rat fordern? Sie plädieren dafür, die Reinvestitionen beim Corona-Notfallanleihekaufprogramm PEPP früher als erst Ende 2024 zurückzufahren.
Zunächst einmal ist das Wichtigste, dass wir diese Frage bisher noch nicht diskutiert haben. Klar ist, dass wir, wenn wir von Straffung sprechen, über die Zinssätze – die Höhe und die Dauer – und die Bilanz sprechen. Zwischen diesen beiden Instrumenten besteht ein gewisser Trade-off und beide bestimmen den Grad der geldpolitischen Straffung. Bei dieser Abwägung haben wir beschlossen, die Zinssätze als wichtigstes Instrument unserer Politik einzusetzen. Das ist wichtig zu bedenken. Und wie ich schon sagte, wir haben jetzt sehr schnell eine Menge getan, um die Zinssätze zu erhöhen, und wir sind zuversichtlich, dass wir mit den bisher unternommenen Schritten mittelfristig unser Ziel erreichen werden. Ich sollte auch erwähnen, dass die Geschwindigkeit, mit der die Bilanz bisher reduziert wurde, im Vergleich zu anderen Zentralbanken außergewöhnlich ist. Seit dem Höchststand der TLTRO-Kreditaufnahme Ende 2021 ist das ausstehende Volumen der TLTROs um 1,65 Bill. Euro gesunken. Hinzu kommt der Rückgang des Portfolios aus dem APP um fast 110 Mrd. Euro seit dem Ende der Reinvestitionen im Juni. In Bezug auf das PEPP ist es auch wichtig zu betonen, dass die Reinvestitionen bei PEPP die erste Verteidigungslinie sind, wenn es Probleme bei der Übertragung der Geldpolitik gibt.
Das heißt, Sie wären vorsichtig?
In der Tat, ich finde, wir sollten sehr vorsichtig sein.
Das gilt dann auch für den aktiven Verkauf von Anleihen?
Das ist nichts, was wir derzeit in Betracht ziehen oder in Zukunft in Betracht ziehen werden.
Und was ist mit der Anhebung des Mindestreservesatzes von 1%, über die diskutiert wird? Das würde die hohe Liquidität im System reduzieren.
Wir haben bereits im Juli beschlossen, die Verzinsung der Mindestreserven zu beenden. Diese Entscheidung war gerechtfertigt, um die Wirksamkeit unserer Geldpolitik zu erhalten und ihre Effizienz zu verbessern. Jede mögliche weitere Entscheidung muss immer geldpolitisch begründet und verhältnismäßig sein, insbesondere unter Berücksichtigung der weitreichenden Reformen der Liquiditätsregulierung nach der Krise. Mir scheint in diesem Sinne ein weiteres Vorgehen an dieser Front nicht naheliegend. In jedem Fall wird sich die laufende Überprüfung unseres Handlungsrahmens eingehender mit dieser Frage befassen müssen.
Bei einem höheren Mindestreservesatz würden auch die risikolosen Profite der Banken sinken, die diese durch das Zusammenspiel aus hoher Überschussliquidität und rascher Zinswende generieren – und die Bilanzverluste der Notenbanken würden reduziert.
Wir sollten uns immer allein von geldpolitischen Überlegungen leiten lassen. Von nichts anderem.
Könnten hohe Verluste die Glaubwürdigkeit der Zentralbanken schädigen oder den politischen Druck erhöhen?
Mögliche Verluste ändern nichts an dem Willen und der Fähigkeit der Zentralbanken, für Preisstabilität zu sorgen. Das ist wichtig zu sagen, als Signal an die Menschen. Was die Banco de España betrifft, so kann ich sagen, dass wir wahrscheinlich einige Jahre lang keine Gewinne ausschütten werden. Aber wir werden keine Rekapitalisierung benötigen, da wir in den letzten Jahren erhebliche Rückstellungen gebildet haben, um genau diese Art von Risiko abzudecken.
Frankreichs Finanzminister Bruno Le Maire hat für ein Ende der Zinserhöhungen plädiert – "genug ist genug", hat er gesagt. Andere Politiker üben teils scharfe Kritik an der EZB. Sorgen Sie sich um die Unabhängigkeit?
Wir Zentralbanker sprechen auch oft über Finanzpolitik. Das passt nicht immer allen und kann manchmal zu Reibungen führen. Aber das ist Teil des Gesprächs und eine gute Sache, solange es innerhalb eines bestimmten Rahmens bleibt. Die Unabhängigkeit der EZB gründet sich auf den EU-Vertrag. Wenn jemand Kritik an uns übt, hat das keine Auswirkungen auf unsere Unabhängigkeit.
Zuletzt hat wieder die Diskussion zugenommen, die Zentralbanken sollten ihr verbreitetes Inflationsziel von 2,0% anheben, weil künftig strukturell höhere Inflation zu erwarten sei. Was halten Sie davon?
Bei unserer letzten Strategieüberprüfung, die im Juli 2021 abgeschlossen wurde, haben wir unser Ziel etwas klarer formuliert. Aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um über das Inflationsziel zu diskutieren. In einer Zeit, in der wir eine hohe Inflation bekämpfen, könnte das der Glaubwürdigkeit der EZB sehr schaden.
Sie sind auch Vorsitzender des Baseler Ausschusses für Bankenaufsicht. Haben Sie bereits Lektionen aus den Turbulenzen der Bankbranche in den USA und der Schweiz im Frühjahr gezogen?
Das haben wir in der Tat. Es gibt mehrere Lehren. An erster Stelle steht die Bedeutung der Risikomanagementpraktiken und der Governance-Regelungen der Banken für die Gewährleistung der finanziellen und operativen Widerstandsfähigkeit. Zweitens ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Aufsichtsbehörden frühzeitig und wirksam handeln, um Schwachstellen in den Bankpraktiken zu erkennen und umgehend zu korrigieren. Die Aufsichtsbehörden müssen zum Beispiel das Geschäftsmodell einer Bank und dessen Nachhaltigkeit viel genauer unter die Lupe nehmen. Und sie müssen über die nötigen Instrumente verfügen, um zu handeln, wenn sie einen Ausreißer erkennen. Schließlich ist ein umsichtiger und robuster Regulierungsrahmen der Schlüssel zur Sicherung der Finanzstabilität. Aber wir brauchen zunächst gründlichere Analysen. In dieser Hinsicht haben die jüngsten Ereignisse deutlich gemacht, dass Basel III vollständig und konsequent umgesetzt werden muss. Was auch immer wir für die Zukunft tun, kann keine Entschuldigung dafür sein, dass wir das, was bereits vereinbart wurde, nicht umsetzen. Darüber hinaus müssen wir einige Merkmale des Basler Rahmenwerks, wie die Liquiditätsanforderungen und das Zinsrisiko, eingehender analysieren.
Für regulatorische Änderungen ist es aber noch zu früh?
Was die Zinsänderungsrisiken im Anlagebuch betrifft, so haben wir bereits in der Vergangenheit intensive Diskussionen geführt. Auch wenn Banken, die zusammengebrochen sind, nicht dem bestehenden IRRBB-Standard unterlagen, haben diese Ereignisse die Aufmerksamkeit erneut auf den derzeitigen Säule-2/3-Ansatz gelenkt, auf Möglichkeiten, ihn zu stärken, und auf die Frage, ob ein Säule-1-Rahmen eine größere Vergleichbarkeit und Konsistenz fördern würde. Im Hinblick auf die Liquidität möchte ich ein Beispiel dafür geben, wie neue Entwicklungen weiter bewertet werden müssten. Es ist deutlich geworden, wie schnell den Banken Liquidität entzogen werden kann und welche Rolle Soziale Medien und Influencer dabei spielen. Wir müssen dies aus regulatorischer und aufsichtsrechtlicher Sicht sorgfältig analysieren.
Die Turbulenzen in der Schweiz haben gezeigt, dass das Too-big-to-fail-Problem immer noch nicht gelöst ist; die Credit Suisse konnte nicht abgewickelt werden. Ist das nicht frustrierend?
Ich bin da etwas positiver eingestellt als Sie. Ohne den neuen Rahmen wäre die Situation viel schlimmer geworden. Es hätte mehr Turbulenzen gegeben und es wären mehr Steuergelder benötigt worden. In dieser Hinsicht hat das FSB kürzlich betont, dass wir weiterhin davon überzeugt sind, dass der internationale Abwicklungsrahmen, der nach der großen Finanzkrise entwickelt wurde, seinen Zweck erfüllt. Gleichzeitig wurde eine Reihe von Herausforderungen bei der Umsetzung festgestellt, die es zu bewältigen gilt. Dies wird das FSB in einem künftigen Bericht über die ersten Erfahrungen im Detail erläutern.
Wie groß schätzen Sie das Risiko ein, dass es auch durch die rasante Zinswende zu einer neuen Banken- und Finanzkrise kommt?
Es ist wichtig zu betonen, dass das System viel widerstandsfähiger geworden ist. Dies ist vor allem auf die in den letzten zehn Jahren weltweit durchgeführten Regulierungsreformen zurückzuführen. Was den aktuellen Kontext betrifft, so profitieren die Banken zunächst von Zinserhöhungen, da sich die Zinsmargen erhöhen. Dies ändert sich im Laufe der Zeit, wenn zum Beispiel die Kreditrisiken im Zuge der Konjunkturabschwächung zunehmen. Und darauf muss man vorbereitet sein. Deshalb appellieren wir derzeit an unsere Banken, die aktuell hohen Gewinne zu nutzen, um ihre Kapitalpuffer zu erhöhen und damit ihre Widerstandsfähigkeit zu steigern.
Zur Person
Pablo Hernández de Cos ist derzeit gleich in doppelter Funktion besonders gefordert. Als Zentralbankchef Spaniens – das Amt hat er seit 2018 inne – entscheidet der 52-Jährige im EZB-Rat über die Geldpolitik in Euroland mit und somit aktuell darüber, wie die Europäische Zentralbank (EZB) mit dem Dilemma aus zu hoher Inflation und zunehmenden Konjunktursorgen umgehen soll. Im Rat gilt der promovierte Ökonom, der seine Karriere 1997 beim Banco de España begonnen hatte, als „Taube“, also als Vertreter einer eher lockeren Geldpolitik. Und als Chef des Baseler Ausschusses für Bankenaufsicht – diese Funktion bekleidet er seit 2019 – schaut er derzeit vor allem, welche Lehren aus den Bankenturbulenzen im Frühjahr dieses Jahres in den USA und der Schweiz zu ziehen sind. Sein Büro hat Hernández de Cos im prachtvollen Sitz der spanischen Zentralbank mitten im Herzen Madrids. Dort verwahrt die 1782 gegründete Notenbank nicht nur die Goldreserven, sondern noch andere Schätze: einige Gemälde des berühmten spanischen Malers Francisco de Goya.