Im InterviewChristian Keller

"Schwaches Wachstum führt nicht automatisch zu Rückgang der Inflation"

Im Interview spricht Barclays-Chefvolkswirt Christian Keller über die neuerliche Zinserhöhung der EZB, die Risiken für die Inflation im Euroraum und die Notenbankbilanz.

"Schwaches Wachstum führt nicht automatisch zu Rückgang der Inflation"

Herr Keller, die Europäische Zentralbank (EZB) hat ihre Leitzinsen zum zehnten Mal in Folge angehoben. Wie beurteilen Sie diese Entscheidung? Hat die EZB jetzt im Kampf gegen die Inflation schon genug getan?

Es war sicher eine schwierige Entscheidung. Die Zinserhöhungen sind bereits weit fortgeschritten, nun geht es um die Kalibrierung der Endphase. Gleichzeitig haben sich die Wirtschaftsdaten weiter eingetrübt und auch die Inflation ist in den vergangenen Monaten zurückgegangen. Dennoch bleibt weitere Disinflation mit Unsicherheit behaftet. Die Kerninflation ist weiterhin zu hoch und die Inflationserwartungen sind in letzter Zeit teilweise wieder angestiegen. Vor diesem Hintergrund halte ich die Entscheidung heute für die richtige. Die EZB hat nochmals verdeutlicht, wie sehr sie sich dem Inflationsziel verpflichtet sieht.  

Parallel zu den Zinserhöhungen reduziert die EZB ihre durch die Anleihekäufe aufgeblähte Bilanz. Braucht es dabei mehr Tempo als bislang? Sollten insbesondere die vollen Reinvestitionen im Zuge des Corona-Notfallanleihekaufprogramms PEPP früher enden als erst Ende 2024?

Der Leitzins bleibt das zentrale Instrument der Geldpolitik. Es scheint in der Eurozone auch zu funktionieren. Zudem führen die andauernden TLTRO-Rückzahlungen der Banken bereits zu einer signifikanten Schrumpfung der EZB-Bilanz. Auch die APP-Reinvestitionen wurden bereits gestoppt. Eine zusätzliche Beschleunigung bei der Rücknahme der PEPP-Reinvestitionen scheint uns derzeit nicht notwendig und könnte auch erhebliche Unsicherheit am Markt erzeugen.

Wie schätzen Sie aktuell insgesamt die Lage ein: Ist es für die EZB aktuell die größere Gefahr, die Geldpolitik zu stark zu straffen oder zu wenig zu tun?

Die in den vergangenen Monaten verschlechterte Konjunkturlage scheint auf die Gefahr einer zu starken Straffung hinzudeuten. Aber leider führt schwaches Wachstum in der jetzigen Situation nicht automatisch zu einem Rückgang der Inflation zurück zum 2-Prozent-Ziel. Die EZB tut daher gut daran, ihre Zinspolitik und Kommunikation weiter auf die Inflationsentwicklung und insbesondere auch die Inflationserwartungen auszurichten. Die EZB hat ein klares Mandat: Preisstabilität. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass dieses Mandat von konjunktur- oder gar fiskalpolitischen Überlegungen aufgeweicht wird.

Die EZB erwartet eine Rückkehr der Inflation zu ihrem Zielwert von 2,0% im Jahr 2025. Ist das früh genug? Und ist das überhaupt realistisch oder pendelt sich die Inflation auf höheren Niveaus ein?

Vor dem Hintergrund des Coronaschocks und der zeitverzögerten Wirkung der Geldpolitik ist es durchaus sinnvoll, die 2% über die mittlere Frist anzupeilen. Auf kürzere Frist stiege das Rezessionsrisiko. Die EZB verfolgt also einen ausgewogenen Pfad. Dennoch bleibt Unsicherheit bezüglich der Inflationsentwicklung bestehen. Falls die Inflation sich doch nicht so entwickelt, wie von der EZB erhofft, muss sie dann auch den Mut haben, eventuell noch weiter zu straffen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass die vielzitierten 2% als Anker für die Inflationserwartungen verloren gehen.

Wie erklären Sie sich die zuletzt rapide Abschwächung der Euro-Wirtschaft? Und wie schlimm kommt es noch – droht gar eine Rezession?

Hier wirken mehrere Faktoren. Die Probleme im europäischen Industriesektor sind Teil der andauernden Schwäche des globalen Produktionszyklus, der von der abnehmenden Nachfrage aus China ausgeht. Das ist insbesondere für die deutsche Wirtschaft ein wichtiger Faktor. Weitere Parameter sind die hohen Energiepreise in Deutschland und auch die geldpolitische Straffung, die allmählich die Realwirtschaft erreicht. All das wirkt sich dann auf die Stimmungslage bei den Konsumenten aus, die sich zuletzt europaweit eingetrübt hat. Eine Rezession kann daher sicher nicht ausgeschlossen werden, eine Stagnation ist aber als wahrscheinlicher anzusehen. Sollte eine Rezession eintreten, fiele sie dank der beträchtlichen Haushaltsersparnisse und der recht guten Arbeitsmarktlage wahrscheinlich relativ flach aus.

Machen Sie sich auch Sorgen wegen der Finanzstabilität im Euroraum und wäre das ein Grund, bei den Zinserhöhungen weniger aggressiv vorzugehen?

Natürlich muss man das Risiko im Blick haben. Wir erleben derzeit eine rapide Kehrtwende in der Zinspolitik nach einer lang andauernden Phase extremer monetärer Expansion. Dies hat am britischen Anleihemarkt und bei einigen regionalen US-Banken bereits für Instabilität gesorgt. Dass der Euroraum bisher weitgehend verschont blieb, ist auch der Erfolg einer konsequenterer Regulierung. Selbst wenn es weiterhin Risiken gibt, hat die EZB andere Instrumente als die Leitzinsen, um damit umzugehen.

Im Interview: Christian Keller

"Gefahr, dass die 2 Prozent nur als hypothetisches Ziel gesehen werden"

Der Barclays-Chefvolkswirt über die neuerliche Zinserhöhung der EZB, die Risiken für die Inflation im Euroraum und die Notenbankbilanz

Nach der neuerlichen Zinserhöhung der Europäischen Zentralbank (EZB) ordnet Christian Keller, Chefvolkswirt der britischen Großbank Barclays, die Entscheidung im Interview ein und gibt seine Einschätzung zum Ausblick ab. Er sorgt sich um die schwächelnde Euro-Konjunktur, aber noch mehr um die Preisstabilität.

Die Fragen stellte Mark Schrörs.