NOTIERT IN MOSKAU

Gefährliche Entfesselungen

Es war Winston Churchill, der das Wesen des Kremls und die Chance, dessen Entscheidungsfindung zu durchschauen, beschrieb wie kein Zweiter zuvor. Der Befund ist im Englischen zu schön, als dass man ihn hier übersetzt wiedergeben sollte: Der Kreml...

Gefährliche Entfesselungen

Es war Winston Churchill, der das Wesen des Kremls und die Chance, dessen Entscheidungsfindung zu durchschauen, beschrieb wie kein Zweiter zuvor. Der Befund ist im Englischen zu schön, als dass man ihn hier übersetzt wiedergeben sollte: Der Kreml sei “a riddle, wrapped in a mystery, inside an enigma”. An anderer Stelle verglich er die Machtkämpfe in Russlands oberster Schaltstelle mit dem Kampf von Bulldoggen unter einem Teppich: Ein Außenseiter, so der frühere britische Premierminister, höre nur das Knurren. Erst wenn er die Knochen herausfliegen sehe, werde offensichtlich, wer gewonnen hat.Wenige Wochen vor den russischen Präsidentenwahlen am 18. März fühlt man sich wieder daran erinnert. Nicht dass um Wladimir Putins Posten gerangelt würde. Aber immer mehr wird in der medial sehr eingeschränkten Öffentlichkeit in Russland darüber debattiert und spekuliert, wie seine vierte Amtszeit als Kremlchef wohl aussehen werde. Immer mehr ist dabei von einer Fortsetzung des Isolationismus, von verstärkten Repressionen und von einem Übergang aus einem “Präsidentenmodus in einen Führermodus” die Rede, wie Nikolaj Petrow, Professor an der Moskauer Higher School of Economics, formulierte. Und immer mehr wird die Aufmerksamkeit auch auf jene Kämpfe innerhalb des Establishments gerichtet, die eine Ahnung von den Machtverhältnissen rund um Putin geben.Gerade 2017 war dabei durch viele “Knochen” gekennzeichnet, die unter dem Teppich hervorgeflogen kamen, um bei Churchills Bild zu bleiben. Da war zum einen die Verurteilung von Ex-Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew zu acht Jahren Lagerhaft wegen der Annahme von Schmiergeld. Da war zum anderen die Kompensationszahlung von umgerechnet 1,44 Mrd. Euro, die der Mischkonzern AFK Sistema an den Ölkonzern Rosneft nach einem dubiosen Rechtsstreit entrichtete. Hinter beiden Fällen stand Rosneft-Chef Igor Setschin, der als einer der führenden Köpfe im Lager der dirigistischen Hardliner gilt. Uljukajew und die Sistema-Führung werden dem wirtschaftsliberalen Lager zugeordnet. Es war nicht ganz verwunderlich, dass Bulldogge Setschin den Sieg davontrug, denn sein Machtzuwachs ist von Jahr zu Jahr offensichtlicher geworden. An anderer Stelle sorgte für Aufsehen, dass das stets machtloyale Top-Banker-Brüderpaar Ananjew vor wenigen Wochen seine Großbank verlor, weil die Zentralbank gegen sie besonders harte Regeln anwandte. Sieger der Bankbereinigung sind vor allem die großen Staatsbanken.Es sind eben nicht Oppositionelle, die aus dem Weg geräumt werden. Treffsicher werden einzelne Mitglieder des Establishments demontiert, da ideologische und oftmals wirtschaftliche Gegner zunehmend wie entfesselt agieren. Auffällig ist, dass Putin im Gegensatz zu früher nicht mehr selbstverständlich als Schiedsrichter zwischen den Einfluss- oder Machtgruppen auftritt, sondern jenen, die mehr administrative Ressourcen und vor allem die Nähe zu Geheimdienst, Polizei oder Militär haben, freien Lauf lässt.Gewiss, das Establishment war nie ein Monolith. Aber es war lange zusammengeschweißt durch das Wissen, dass Putins Machtkonstruktion wirtschaftliches Wohlergehen garantiert. 2014 diente zudem die Annexion der Krim als patriotisches Bindemittel innerhalb der Elite, denn bis auf wenige Ausnahmen schlug sich auch das wirtschaftsliberale Lager auf die Seite des Völkerrechtsbruchs. Inzwischen hat dieses Bindemittel an Kraft verloren, und auch das wirtschaftliche Wohlergehen ist nicht mehr gesichert. Dass in dieser Phase einige gleicher sein dürfen als andere, ist ein gefährliches Spiel. Schon am Ende von Putins dritter Amtszeit 2011 brachten Spaltpilze das Gefüge angesichts der damaligen Massenproteste fast zum Bersten. Am Ende der vierten Amtszeit verselbständigen sich einzelne Machtgruppen erneut. Das System mus deswegen nicht bersten. Aber um es zusammenzuhalten, wird es zwischendurch wieder mehr Repression und punktuelle Verhaftungen brauchen. Richtig gefährlich aber – so die Politologin Tatjana Stanowaja – werde es, wenn der politische Raum in Bewegung gerät und Putin registrieren muss, dass seine einst so wirksamen Machthebel an Wirkung verloren haben.