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Gefangene Politik

Italiens Politik bleibt in ihrem rigiden Regelwerk gefangen. Nachdem der von Staatspräsident Giorgio Napolitano als "letzte Lösung der politischen Pattsituation" eingesetzte Weisenrat an einem Kompromiss für die Reform des Wahlrechtes bastelt, geht...

Gefangene Politik

Italiens Politik bleibt in ihrem rigiden Regelwerk gefangen. Nachdem der von Staatspräsident Giorgio Napolitano als “letzte Lösung der politischen Pattsituation” eingesetzte Weisenrat an einem Kompromiss für die Reform des Wahlrechtes bastelt, geht die Amtszeit Napolitanos zu Ende. Die störrischen Parteien wollen sich nicht ans Gängelband nehmen lassen.Der vorerst an der Regierungsbildung gescheiterte Pier Luigi Bersani von den Linksdemokraten (DS) hat bislang die von Ex-Regierungschef Silvio Berlusconi (Mitte-rechts-Lager PdL) geforderte Koalition abgelehnt. In einem Acht-Punkte-Programm hat Berlusconi neuerdings genau jene Argumente angeführt, die während seiner vierjährigen Regierungszeit (2008-2011) tabu waren: etwa eine Antikorruptionsstrategie, Steuerreform oder gar die Lösung des Interessenkonfliktes zwischen politischer Machtausübung und wirtschaftlichen Tätigkeiten des Unternehmers. Berlusconi fiebert, von Umfragen beflügelt, neuerlichen Wahlen entgegen. Beppe Grillo von der Protestbewegung M5S weist jede Vereinbarung mit Bersani oder einem anderen Partner entrüstet von sich. Dass ausgerechnet in dieser dramatischen Lage die Amtszeit des Staatspräsidenten abläuft, erschwert die Situation zusätzlich. Napolitano – er wird in Kürze 88 – gilt als einzige Integrationsfigur in dem zerrissenen Land. In der am 18. April beginnenden Wahl bestimmen 1 007 Volksvertreter seinen Nachfolger. *Die ” institutionellen Regeln”, nach denen Italiens erstarrte Politik abläuft, sind rigide und anachronistisch. Fast alle Anwärter auf das Amt des Staatspräsidenten sind älter als 70 und waren zuvor Regierungschef oder Senatspräsident. Und alle Präsidenten der vergangenen Jahrzehnte wurden im Alter von rund 80 Jahren für eine siebenjährige Amtszeit gewählt. “In Italien könnte eine Frau eher zum Kardinal gewählt werden als zur Staatspräsidentin”, so die ehemalige EU-Kommissarin Emma Bonino. Zu den Favoriten gehören “Dinosaurier” wie die Ex-Premiers Giuliano Amato, Romano Prodi und Massimo D’Alema sowie der frühere Senatspräsident Franco Marini. Grillos Protestbewegung will den Kandidaten durch ein Internetreferendum ermitteln. Berlusconi besteht darauf, dass der neue Staatschef keineswegs aus dem linken Lager stammen dürfe, wenn schon mit einem linken Premier zu rechnen sei. *Lichtjahre trennen die Politiker mit ihrem bizarren Kauderwelsch und der Verzögerungstaktik von der Realität der Normalbürger. Während der vergangenen 45 Tage, in denen die Politiker mit sich beschäftigt waren, zeichneten neue Zahlen ein deutliches Bild der Krise: Täglich schließen 167 Geschäfte, 2012/2013 wurde der stärkste Verbrauchsrückgang seit Kriegsende verzeichnet, vier Millionen Italiener gelten als arm. Die Arbeitslosenrate ist auf ein Mehrjahreshoch von knapp 12 % gestiegen. Seit Jahresbeginn nimmt die Selbstmordwelle, bedingt durch die Schuldenkrise, beängstigend zu. In den vergangenen Wochen berichteten die Medien fast täglich von Verzweiflungstaten. Das Land ist erschüttert. Am Wochenende wurde ein älteres Ehepaar begraben, das infolge von Arbeitslosigkeit und zu geringer Rentenzahlungen den Freitod einem Leben in Misere vorzog. Beim Begräbnis wurden die anwesenden Politiker ausgepfiffen. “Der Staat – ein Mörder” war auf Flugzetteln zu lesen. Angelino Alfano von der Berlusconi-Partei PdL sprach von “einer Welle von Selbstmorden wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten, die noch nie so lange angehalten hat”.Die Situation droht sich zuzuspitzen. In den ersten Monaten 2013 hat sich die Kündigungswelle verschärft, nachdem im Vorjahr bereits eine Million Arbeitnehmer entlassen wurde. Der Steuerdruck lag zur Jahreswende mit 52 % auf einem Allzeithoch. In den nächsten Monaten ist mit weiteren Steuerkorrekturen zu rechnen. Geduld, um sich die üblichen Polit-Feilschereien anzusehen, hat das Land schon längst nicht mehr. Die für kommenden Samstag angekündigten Massenproteste sind dafür der beste Beweis.