LEITARTIKEL

Gegen die Wand

EU-Ratspräsident Charles Michel ist im Dezember mit einigen Vorschusslorbeeren ins Amt gestartet: Wer es schaffe, in einem so zersplitterten und manchmal gar unregierbar erscheinenden Land wie Belgien als Premier mehr als fünf Jahre eine Koalition...

Gegen die Wand

EU-Ratspräsident Charles Michel ist im Dezember mit einigen Vorschusslorbeeren ins Amt gestartet: Wer es schaffe, in einem so zersplitterten und manchmal gar unregierbar erscheinenden Land wie Belgien als Premier mehr als fünf Jahre eine Koalition zusammenzuhalten, der schaffe es auch, im komplexen Geflecht der EU-Mitgliedstaaten die Fäden in der Hand zu halten, hatte es geheißen. Nach den Ereignissen der letzten Woche dürften von diesen Lorbeeren aber nicht mehr viele übrig sein: Bereits auf dem Dezember-Gipfel war der Frieden unter den EU-Ländern ja nur mit Hilfe von fragwürdigen Scheinkompromissen zum Green Deal gerettet worden. Den Sondergipfel zum nächsten mehrjährigen EU-Haushaltsrahmen hat Michel nun aber derart gegen die Wand gefahren, dass kein Schönreden mehr möglich ist. Ein missratener Kompromissvorschlag im Vorfeld, eine eher tollpatschige Verhandlungsführung, kein Plan B in der Tasche – so war der Budgetstreit nicht zu lösen.Natürlich ist die Aufgabe kompliziert: Es geht darum, wie die EU nach dem Ausscheiden Großbritanniens finanziert werden soll und für welche Aufgaben die Mitgliedstaaten wie viel Geld zur Verfügung stellen wollen. Es geht also auch um die ganz grundsätzliche Frage, wohin die Europäische Union mittel- bis langfristig steuern soll, wo sie einen Mehrwert erzielen kann und wie künftig eine europäische Solidargemeinschaft ausgestaltet wird. Dies sind Fragen, die eigentlich längst hätten ernsthaft diskutiert werden müssen und die im Zuge der Budgetverhandlungen jetzt wieder neu auf dem Tisch landen – und dies vor dem Hintergrund einer Brexit-bedingten Haushaltslücke, die sich für die nächsten sieben Jahre auf 60 bis 75 Mrd. Euro summiert.Im aktuellen Streit um den Finanzrahmen für die Jahre 2021 bis 2027 geht es im Wesentlichen um fünf Punkte: Auf welchem Niveau sollen die Ausgaben gedeckelt werden? Soll die EU neben den Mitgliedsbeiträgen künftig auch auf neue Einnahmequellen – zum Beispiel eigene Steuern – zurückgreifen dürfen? Erhalten einzelne Länder Rabatte auf ihre Beiträge? Welche Prioritätensetzung gibt es bei den Ausgaben? Und: Werden die Auszahlungen aus dem EU-Budget künftig an Bedingungen wie die Einhaltung von Rechtsstaatsprinzipien gekoppelt? Leider war auch auf dem Sondergipfel in der letzten Woche in keinem dieser Streitpunkte eine substanzielle Annäherung festzustellen. Darüber hinaus wurde wieder nicht die eigentlich wichtige inhaltliche Frage diskutiert, wie ein “moderner” Haushalt jenseits der traditionellen Ausgaben für Agrarhilfen und Strukturfonds aussehen soll. Wieder drehte sich stattdessen alles nur darum, wie viel Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE) die Mitglieder in den Topf einzahlen müssen.In dieser Frage haben sich leider die Nettozahler Niederlande, Österreich, Dänemark und Schweden, die neben Deutschland einen Großteil der Brexit-Lücke füllen sollen, tief in den Schützengräben verschanzt und bestehen kompromisslos auf einer 1,0-Prozent-Deckelung. Der niederländische Premier Mark Rutte beispielsweise, der zu Hause mit seiner Ein-Stimmen-Mehrheit-Koalition über kaum Beinfreiheit verfügt, hat auf dem Sondergipfel erklärt, er habe eine Chopin-Biografie dabei und beabsichtige, seine Zeit in Brüssel damit so gut wie möglich zu nutzen. Bei solchen Verhandlungspartnern bringt auch das Verschieben von einigen Milliarden Euro von der einen zur anderen Seite nichts, um zu einer Einigung zu kommen. Ähnliches gilt auch für die “Freunde der Kohäsion”, also die Nettoempfänger, die ihre Pfründe ebenfalls mit aller Macht verteidigen.——Von Andreas HeitkerDer Sondergipfel zum künftigen EU-Haushalt war ein Flop. Man kann nur hoffen, dass der Crash eine heilsame Wirkung hatte und eine Einigung nun erleichtert. ——