GASTBEITRAG

Gegenwind hemmt Indiens Wachstum

Börsen-Zeitung, 8.12.2017 Trotz eines realen Wirtschaftswachstums von aktuell rund 5,7 % ist die erwartete Wachstumsbeschleunigung in Indien bisher ausgeblieben. Damit kann sich Indien im Vergleich zum Durchschnitt der Emerging Markets von 4,6 %...

Gegenwind hemmt Indiens Wachstum

Trotz eines realen Wirtschaftswachstums von aktuell rund 5,7 % ist die erwartete Wachstumsbeschleunigung in Indien bisher ausgeblieben. Damit kann sich Indien im Vergleich zum Durchschnitt der Emerging Markets von 4,6 % (IWF-Prognose) zwar immer noch sehen lassen, bleibt aber weit unter dem 2014 erreichten Niveau, als die BJP-Regierung an die Macht kam. Die Konjunktur hat an Schwung verloren, da einige Reformmaßnahmen kurzfristig einen wachstumsdämpfenden Effekt haben, der noch bis ins Jahr 2018 spürbar bleiben dürfte. Ferner werden die haushaltspolitischen Probleme des Landes derzeit nur ausgesessen. Doch der Tag wird kommen, an dem diese oder die nächste Regierung Ausgabenkürzungen beschließen, das Haushaltsdefizit reduzieren und die Verschuldung im öffentlichen Sektor in Indien abbauen muss. Dies wird sich negativ auf die weitere Wachstumsentwicklung auswirken. UrsachenforschungBisher waren Anleger von einem nachhaltigen Wachstum Indiens ausgegangen, mit höheren Wachstumsraten als in China. Diese Erwartungen scheinen jedoch angesichts des gegenwärtigen Trends nicht mehr haltbar: Nach Wachstumsraten von etwa 6,4 % im Jahr 2014, die in einem kurzen Höhenflug Anfang 2016 bis auf rund 9 % kletterten, hat sich die Konjunktur in Indien seither merklich abgekühlt. Im zweiten Quartal 2017 lag der Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nur noch bei 5,7 %, und die jüngsten Wirtschaftsdaten zu Industrieproduktion, Einzelhandelsumsätzen und Geschäftsklima deuten auf eine mögliche Fortsetzung des Abwärtstrends im dritten Quartal hin. Die Kreditvergabe an den privaten Sektor bleibt mit einer mageren Steigerung von 3,6 % im Vorjahresvergleich (Stand Juni 2017) weit hinter den durchschnittlichen 8 % über die gesamte Regierungszeit der BJP zurück.Wachstumshemmend wirken insbesondere folgende Faktoren:1) Die kurzfristig negativen Auswirkungen einiger Reformmaßnahmen der Regierung wie beispielsweise das Demonetisierungsexperiment Ende 2016. Alle 500- und 1000-Rupien-Scheine wurden mit sofortiger Wirkung für ungültig erklärt und mussten bis Jahresende bei den Banken eingezahlt oder umgetauscht werden. Weite Teile der Bevölkerung sahen sich damit gezwungen, erstmals ein Bankkonto zu eröffnen. Die Luxusgüterbranche verzeichnete infolge dieser Maßnahmen kurzfristig hohe Einbußen, und auch am Immobilienmarkt war das Transaktionsvolumen rückläufig.2) Im Juli dieses Jahres ist eine neue einheitliche Umsatzsteuer in Kraft getreten, die die Vielzahl an verschiedenen Umsatzsteuern in den einzelnen Bundesstaaten des Landes abgelöst hat. Diese große Umsatzsteuerreform hat offenbar für Turbulenzen im indischen Einzelhandel gesorgt, wo man sich mit dieser steuerpolitischen Neuordnung auf neue Bilanzierungs- und Berichtsvorschriften sowie neue Vorschriften zur Zahlungsabwicklung einstellen musste.3) Staatliche Banken wurden von Regierung und Zentralbank kontinuierlich dazu angehalten, ihre Kapitalbasis zu verbreitern und ihre notleidenden Kredite auszuweisen. Dies hat bei diesen Banken wohl für mehr Zurückhaltung in der Kreditvergabe an die Privatwirtschaft gesorgt. Obwohl die indische Zentralbank von der heimischen Presse scharf für ihre wachstumsfeindliche Politik der anhaltend hohen Zinsen kritisiert wurde, lässt sich dem entgegenhalten, dass die Inflationsrate (CPI-Index) 2014 trotz eines Leitzinses von 8,0 % einen Stand von 4,6 % erreicht hatte. Mittlerweile ist sie auf 3,3 % gefallen, und dies obwohl auch der Leitzins nur noch bei 6,0 % liegt. Etatkonsolidierung bremstAus folgenden Gründen sind die oben genannten Maßnahmen langfristig positiv für die indische Volkswirtschaft:1. Die Demonetisierung ist ein wichtiger Schritt im Kampf gegen Schattenwirtschaft und Steuervermeidung.2. Die Umsatzsteuerreform bedeutet Bürokratieabbau für Unternehmen.3. Die Reform des Bankensektors schreitet voran: Die Regierung hat den schwächelnden staatlichen Banken eine anleihefinanzierte Kapitalspritze von 1,35 Bill. Rupien (rund 17,7 Mrd. Euro, 0,9 % des BIP) in Aussicht gestellt, um den Ausweis und die Abwicklung notleidender Kredite zu beschleunigen. Davon erhofft man sich eine Bereinigung der Bankbilanzen und damit eine Ausweitung der Kreditvergabe. Der Großteil an neuen Krediten wird derzeit von den unbelasteten privaten Banken vergeben. Mit langsamerem BIP-Wachstum durch dieses Maßnahmenpaket zahlt die indische Wirtschaft derzeit ihren Preis für ein stärkeres und nachhaltigeres Wirtschaftswachstum in der Zukunft.Weniger positiv zu werten ist die Tatsache, dass die Regierung das Instrument der Haushaltspolitik derzeit zu vernachlässigen scheint. Ende 2014 kam es zu einer gewissen Liberalisierung der Benzinpreise in Indien und damit einer Kürzung der Staatsausgaben für entsprechende Subventionen. Trotz dieser Maßnahme lag das Haushaltsdefizit in Indien (Bundesstaat und Einzelstaaten) 2014 jedoch nach wie vor bei 7,2 % des BIP. Seit damals ist wenig passiert, um die Einnahmen des Fiskus zu steigern oder die Staatsausgaben zurückzuschneiden. Daher geht der IWF für 2017 von einem Haushaltsdefizit von 6,4 % für Indien aus. Die gesamte Staatsverschuldung dürfte sich 2017 auf 68,7 % des BIP belaufen. Damit ist das Niveau des Schuldenstands seit 2014 mehr oder weniger konstant geblieben. Dieser Haushaltssaldo scheint langfristig nicht tragbar, und die Regierung wird früher oder später handeln müssen oder Gefahr laufen, dass der Schuldenberg noch weiter anschwillt. Sofern sich die Regierung zu einem Konsolidierungskurs in der Haushaltspolitik durchringen kann und wenn sie diesen dann einschlägt, dürfte dies nicht ohne Folgen für das BIP-Wachstum bleiben.Die amtierende Regierung steht vor einem schwierigen Jahr. Der Konjunkturmotor läuft nicht mehr ganz so rund, und die positiven Impulse der Reformen der letzten Jahre lassen noch auf sich warten. Außerdem findet 2019 in Indien wieder eine Parlamentswahl statt. Im Hinblick darauf steht die Regierungspartei vor einem Dilemma: Einerseits will man sich mit einer wachstumsfördernden Politik die Gunst der Wähler sichern, andererseits aber auch den Reformkurs fortsetzen.—-Von Koon Chow, EM Macro und FX-Stratege bei UBP Asset Management