ExklusivKonjunkturampel

Geldpolitik bremst Konjunktur in Deutschland rascher aus als erwartet

Der Zinserhöhungskurs der Europäischen Zentralbank (EZB) bremst die Konjunktur hierzulande bereits jetzt rascher aus als erwartet. Die Konjunkturampel der Börsen-Zeitung und von Kiel Economics schätzt die Rezessionswahrscheinlichkeit für 2023 auf 67%. Dies lässt ein BIP-Minus von 1,5% erwarten.

Geldpolitik bremst Konjunktur in Deutschland rascher aus als erwartet

Geldpolitik bremst Konjunktur in Deutschland rascher aus als erwartet

Konjunkturampel zeigt nun deutlich klareres Rezessionssignal – Wirtschaft könnte um 1,5 Prozent schrumpfen – Geldhaltung ebenfalls ein Argument

Von Alexandra Baude, Frankfurt

Der beispiellose Zinserhöhungskurs der Europäischen Zentralbank (EZB) bremst die Konjunktur bereits jetzt rascher aus als erwartet. Die Konjunkturampel der Börsen-Zeitung und von Kiel Economics schätzt die Wahrscheinlichkeit, dass das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) im laufenden Jahr sinkt, auf 67%. Das Rezessionssignal ist für Carsten-Patrick Meier, Leiter von Kiel Economics, einer Ausgründung aus dem Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW), damit deutlich klarer als noch zu Jahresbeginn mit 56%, “wobei der gesamtwirtschaftliche Produktionsrückgang im vergangenen Winterhalbjahr in die Berechnung nicht eingeht”.

Die Winterrezession ist derzeit für viele Ökonomen ein bedeutendes Argument, die Wachstumsprognosen nach unten anzupassen. Die von dem Ampel-Algorithmus berechnete Punktprognose lässt nun auf ein um 1,5% schrumpfendes BIP schließen – in der vorherigen Berechnung war es noch ein Plus von 1,0%. Signalgeber der Ampel sind mehr als 50 erwartungsbasierte Indikatoren, anhand derer sich die Wahrscheinlichkeit berechnet, dass sich die deutsche Wirtschaft in einer ausgeprägten Abschwungphase wie zuletzt zu Zeiten der Weltfinanzkrise 2008/2009 befindet.

Zurückhaltend bei Ausgaben

Ein wichtiges Signal in Richtung Rezession kommt Meier zufolge von der Geldhaltung. Seit Anfang 2022 ist die Haltung von Sichteinlagen bereinigt um den Verbraucherpreisanstieg um 13% zurückgegangen, im laufenden Jahr sogar beschleunigt. “Demnach planen die Unternehmen und die privaten Haushalte, ihre Ausgaben deutlich einzuschränken, und zwar nicht nur 2023, sondern auch 2024”, konstatiert Meier. In diese Richtung weise auch die deutliche Verschlechterung des Geschäftsklimas. Die Erholung der Einkommenserwartung der Verbraucher in diesem Jahr wirke dem Abwärtstrend entgegen, habe sich zuletzt aber nicht mehr fortgesetzt. Wie viele andere Ökonomen erwartet auch Meier, dass die immer noch recht vollen Orderbücher die Produktion weiter stabilisieren: “Allein von der Nachfrageentwicklung würde der Einbruch stärker ausfallen.” Allerdings zeigen die entsprechenden Ifo-Umfragen, dass die Auftragspolster mittlerweile als nicht mehr ganz so komfortabel eingeschätzt werden.

Ein Argument für die Konsum- und Investitionszurückhaltung ist die immer noch hohe Inflation. Im Juni lag die Jahresrate nach europäischer Rechenart (HVPI) bei 6,8%. Nicht wenige Beobachter hierzulande erwarten, dass die stärksten Zinserhöhungen der EZB seit Bestehen der Währungsunion – um 4 Prozentpunkte binnen Jahresfrist – und das begonnene Abschmelzen des Bestands der in den Kaufprogrammen der vergangenen Dekade erworbenen Vermögenstitel nicht ausreichen werden, um eine zumindest vorübergehende Verfestigung der Inflation zu verhindern. Tatsächlich, so Meier, “spricht einiges dafür, dass genau das Gegenteil der Fall ist und der Kurs der EZB bereits jetzt restriktiver ist als nötig”.

Keine Wiederholung der 1970er

Die Notenbanker rund um den Globus liefen Gefahr, einen Fehler ihrer Amtsvorgänger zu wiederholen – wenn auch mit umgekehrtem Vorzeichen. Während Letztere die Wirkungen der Geldpolitik dahingehend unterschätzten, dass sie die Inflationsbekämpfung gar nicht als maßgebliche Aufgabe der Notenbanken sahen und deshalb zu lange untätig blieben, könnten ihre Nachfolger von heute – und die Märkte mit ihnen – die konjunkturellen Bremswirkungen einer geldpolitischen Straffung unterschätzen, die an der Nullzinsgrenze beginnt und in einer überaus verflochtenen Welt synchron in fast allen wichtigen Währungsräumen durchgeführt wird.

Denn wenn eine Erkenntnis im Feld der Geldpolitik den Status von Lehrbuchwissen beanspruchen kann, so ist es Meier zufolge die, dass Notenbanken einer aufkommenden Inflation rasch und entschieden entgegentreten müssen, damit die Inflationserwartungen in der Nähe des Ziels der Notenbank für den Preisauftrieb verankert bleiben. Dies dürften alle Personen, die derzeit rund um den Globus geldpolitische Entscheidungen verantworten, verinnerlicht haben. Eine Wiederholung der 1970er Jahre, als die Inflation in vielen Ländern in Richtung zweistelliger Raten tendierte und am Ende nur um den Preis einer scharfen Anpassungsrezession wieder „eingefangen“ werden konnte, werde es unter ihrer Regie nicht geben, erwartet Meier.

Dass die Straffung der Geldpolitik die Konjunktur bereits jetzt rascher als erwartet ausbremst, könnte eine Erklärung dafür sein, dass die erwartete Erholung bislang ausgeblieben ist – und zwar weltweit. Die sich auflösenden Lieferengpässe und sinkenden Öl- und Gaspreise hatten eine solche Aufschwungshoffnung zu Jahresbeginn geschürt. Ein Problem stellt für Meier dabei das jahrelang sehr niedrige Zinsniveau dar. Die EZB und die anderen Notenbanken hätten dadurch im vergangenen Jahr vor dem Dilemma gestanden, dass die absoluten Zinsanhebungen, die notwendig waren, um dem Publikum ihre Entschlossenheit glaubhaft zu machen, ausgehend von diesem Niveau sehr hohe relative Erhöhungen der Kapitalkosten bedeuten. Der Kreditzinsanstieg seit Anfang 2022 von 1% auf 4% habe die Kapitalkosten vervierfacht; derselbe Anstieg um 3 Prozentpunkte hätte von dem noch in den 2000er Jahren gängigen Niveau von 4% ausgehend nicht einmal eine Verdoppelung der Kapitalkosten impliziert. Gemessen am relativen Anstieg ist dies damit die mit Abstand schärfste Zinserhöhung in der gesamten Nachkriegszeit.

Hinzu kommt für Meier, dass die Lieferengpässe und Rohstoffpreiserhöhungen der vergangenen Jahre den Preisauftrieb in fast allen wichtigen Währungsräumen stark beschleunigt haben, “so dass sich die Notenbanken zwar unabhängig voneinander, jedoch trotzdem weitgehend synchron zu starken Zinserhöhungen genötigt sahen und sehen”. Durch diese faktische Gleichschaltung könnte der Impuls ebenfalls stärker ausfallen als angenommen.

Späte Sichtbarkeit

In Rechnung zu stellen sei bei allem ferner, dass wegen der „langen und variablen Verzögerungen“ – so die Erklärung des Nobelpreisträgers Milton Friedman –, mit denen die Geldpolitik konjunkturell wirkt, die realwirtschaftlichen Effekte der Zinserhöhungen wenn überhaupt, dann gerade erst am aktuellen Rand und nur in den Anfängen sichtbar sind. “Für eine zeitnahe Korrektur ihres Kurses dürfte es insofern zu spät sein, falls die Konjunktur stärker abstoppt als beabsichtigt”, betonte Meier.

| Quelle:
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