LEITARTIKEL

Geldpolitik im Blindflug

Die Europäische Zentralbank (EZB) steht morgen vor zentralen Weichenstellungen für ihre Geldpolitik im Jahr 2018. Die Euro-Hüter sind dabei mit einem Dilemma aus überraschend starkem Wachstum und unerwartet (zu) schwacher Inflation konfrontiert....

Geldpolitik im Blindflug

Die Europäische Zentralbank (EZB) steht morgen vor zentralen Weichenstellungen für ihre Geldpolitik im Jahr 2018. Die Euro-Hüter sind dabei mit einem Dilemma aus überraschend starkem Wachstum und unerwartet (zu) schwacher Inflation konfrontiert. Darin aber manifestiert sich zugleich ein viel fundamentaleres Problem: Die Weltfinanzkrise hat an den Grundfesten der Geldpolitik gerüttelt und jahrzehntelange Gewissheiten mindestens stark in Frage gestellt. Die Unsicherheit unter den Zentralbankern weltweit über das Funktionieren der Volkswirtschaften sowie über ihr eigenes Tun und Wirken ist aktuell immens. Etwas überspitzt könnte man sagen: Die Zentralbanker betreiben gerade Geldpolitik im Blindflug.Diese Unsicherheit zeigt sich am eindringlichsten im viel diskutierten Lohnrätsel. Die reine ökonomische Lehre besagt, dass dann, wenn eine Volkswirtschaft wächst und die Arbeitslosigkeit immer weiter sinkt, die Löhne anziehen und damit am Ende auch die Inflation. Die zugrunde liegende Theorie der Phillipskurve ist fester Teil der Zentralbank-DNA. Jetzt aber steht sie in Zweifel: Selbst in Ländern wie den USA und Deutschland, in denen quasi Vollbeschäftigung herrscht, legen die Löhne bislang kaum zu – was die Inflation vielerorts hartnäckig unterhalb des verbreiteten 2 %-Ziels verharren lässt. Dass die Zentralbanker, die sonst geübt darin sind, keine Zweifel an ihrer Profession aufkommen zu lassen, dieses Rätsel offen thematisieren, irritiert viele – ist aber völlig richtig.Die Erklärungen für dieses “Conundrum 2.0” sind mannigfaltig, und vermutlich steckt in allen das berühmte Stückchen Wahrheit. Teils dürften es temporäre Gründe sein, wie eine Unterauslastung am Arbeitsmarkt, die nach der Krise höher ist als in der offiziellen Statistik ausgewiesen, und teils strukturelle, wie der Wettbewerb durch die Globalisierung. Einiges spricht indes dafür, dass auch künftig im Prinzip mehr Wachstum zu mehr Inflation führt. Das aber könnte schlicht länger dauern, wenn zugleich Demografie, Globalisierung oder Digitalisierung dämpfen. In jedem Fall aber sollte niemand voreilig die Inflation für “tot” erklären. Das wäre fahrlässig und mutmaßlich der sicherste Weg, dass sie doch wieder zum großen Problem wird.Es ist aber beileibe nicht nur das maue Lohnwachstum, das derzeit viele Zentralbanker (ver)zweifeln lässt. Ein großes Rätsel ist auch, warum die Produktivität kaum wächst. Gefragt ist da aber nicht die Geld-, sondern die Strukturpolitik. Große Unsicherheit herrscht auch in Sachen “natürlicher” Zins, der die Wirtschaft im Gleichgewicht hält. Tatsächlich gibt es Signale, dass dieser stark gesunken ist, aber zugleich variieren die Schätzungen extrem, was zur Vorsicht mahnt. Fakt ist zudem, dass alte Probleme keineswegs überwunden sind. Beispiel Inflationserwartungen: Sie sind so etwas wie der Heilige Gral der Geldpolitik – zugleich gibt es aber kaum valide Informationen über die Inflationseinschätzungen der Konsumenten und der Unternehmen, und schon gar nicht auf längere Sicht. Beispiel Inflationsmessung: Es lässt sich nach wie vor trefflich streiten, ob Inflation richtig gemessen wird – wenn etwa rasant steigende Vermögenspreise unberücksichtigt bleiben. All das legt in der Tat nahe, dass die Zentralbanken vielleicht gar nicht so viel über die Inflation wissen, wie sie immer dachten – geschweige denn, dass sie diese stets perfekt steuern könnten.Eine Unsicherheit verschweigen viele Zentralbanker dabei gerne – die durch ihre Politik selbst ausgelöste. Mit Maßnahmen wie breiten Anleihekäufen oder Negativzinsen haben sie Neuland betreten. Damit fehlt nicht nur empirische Evidenz über das Wirken. Fraglich ist auch, inwieweit sie womöglich wirtschaftliche Strukturen oder Verhaltensweisen grundlegend verändert haben. Die Frage stellt sich umso mehr, wenn nun der ebenfalls beispiellose Ausstieg bevorsteht. Volkswirtschaften sind hochkomplexe, sich ständig verändernde Systeme, die nie vollständig verstanden und schon gar nicht hundertprozentig kontrolliert werden können. Die Zentralbanker sollten da nicht leichtfertig (immer weiter) eingreifen.Natürlich können die Zentralbanker nun auch nicht einfach aufhören, Geldpolitik zu machen. Sie sollten aber zumindest zwei Lehren ziehen: Einerseits sollten sie nicht versuchen, die Inflation kurzfristig auf ein 2 %-Punktziel feinzusteuern. Sie müssen ihren Zeithorizont weiten und etwas mehr Toleranz zeigen gegenüber einem Unterschreiten des Inflationsziels – zumal, wenn wie jetzt eine jahrelange ultraexpansive Geldpolitik zunehmend Finanzstabilitätsrisiken kreiert. Andererseits müssen sie ganz grundsätzlich mehr Demut zeigen bei der Frage, was Geldpolitik kann – und was eben nicht. Das gilt nicht nur, aber auch für die EZB: Es ist höchste Zeit, den Einstieg in den Ausstieg aus dem Krisenmodus anzugehen.——–Von Mark SchrörsDie Finanzkrise hat viele geldpolitische Gewissheiten mindestens in Frage gestellt. Die Zentralbanker sollten mehr Demut zeigen, was Geldpolitik kann – und was nicht.——-