GASTBEITRAG

Geldpolitische Normalisierung nicht in Frage stellen!

Börsen-Zeitung, 11.5.2019 Der geldpolitische Normalisierungskurs der Europäischen Zentralbank (EZB) droht mal wieder auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben zu werden. Auf der Sitzung des EZB-Rates im März wurde nicht nur die sogenannte Forward...

Geldpolitische Normalisierung nicht in Frage stellen!

Der geldpolitische Normalisierungskurs der Europäischen Zentralbank (EZB) droht mal wieder auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben zu werden. Auf der Sitzung des EZB-Rates im März wurde nicht nur die sogenannte Forward Guidance revidiert, die Orientierung über die zukünftige Leitzinsentwicklung geben soll (“mindestens bis in das Jahr 2020”). Es wurden zugleich neue langfristige Refinanzierungsgeschäfte für den Bankensektor auf den Weg gebracht. Da diese im Zeitraum von September 2019 bis September 2021 aufgelegt werden sollen und zudem über Laufzeiten von bis zu 24 Monaten verfügen, wird dem Bankensystem im Euroraum damit frische Liquidität voraussichtlich zum Nulltarif für weitere vier Jahre zur Verfügung gestellt – und dies gut zehn Jahre nach Ausbruch der globalen Finanzkrise. Ausblick schreckt nichtBegründet wurden all diese Maßnahmen mit dem Konjunkturausblick, der sich eingetrübt hat. Und mit der Inflation, die weiterhin unter der EZB-Zielmarke von knapp 2 % liegt. Einige Stimmen fordern deshalb sogar noch weiter gehende Maßnahmen, im Zweifel auch eine Neuauflage des massiven Anleiheankaufprogramms der Jahre 2015 bis 2018 (“Quantitative Easing”).Die erneute Verschiebung der geldpolitischen Normalisierung ist kritisch zu betrachten. Zum einen hat die konjunkturelle Abschwächung bislang keine besorgniserregende Dimension erreicht, und es ist mehr als unsicher, ob der Euroraum überhaupt in eine Rezession fallen wird. Im ersten Quartal wuchs das Bruttoinlandsprodukt (BIP) immerhin um 0,4 %. Und selbst wenn doch eine Rezession käme, so würde es sich aus heutiger Sicht wohl um eine ganz normale handeln, die ihren Ursprung in einer Abschwächung der industriellen Wertschöpfung nimmt. Dies ist nach einem fast neun Jahre dauernden Aufschwung kein ungewöhnlicher Vorgang. Deshalb muss die Frage gestattet sein, ob die Geldpolitik bereits auf erste Anzeichen für eine zwar mögliche, aber völlig normale Rezession mit der geldpolitischen Keule unorthodoxer Maßnahmen reagieren sollte. Die neuen Instrumente mögen in der Hochphase der Finanzkrise sinnvoll gewesen sein. Sie aber bereits jetzt wieder zu aktivieren, blendet aus, dass damit erhebliche Risiken und Nebenwirkungen einhergehen – allen voran für die Finanzstabilität.Denn der weiter steigende Anteil von Staatsanleihen in den Bankbilanzen verfestigt die unheilvolle Verflechtung von Staat und Bankensektor – eines der Hauptprobleme während der letzten Staatsschuldenkrise. Hierauf hat auch der Internationale Währungsfonds (IWF) in seinem neuen Global Financial Stability Report im April hingewiesen. Folge des andauernden Niedrigzinsumfeldes sind zudem erhebliche Umverteilungseffekte – zulasten der privaten Altersvorsorge. Darunter leidet bereits seit längerem die Bereitschaft der privaten Haushalte zur langfristigen Eigenvorsorge.Einige Vertreter der neuen Geldpolitik sehen in der Neuauflage eines Anleiheankaufprogramms eine Option, die geldpolitischen Ziele zu erreichen. Ein Blick nach Japan zeigt aber deutlich, dass die Möglichkeiten der Geldpolitik begrenzt sind. Obwohl die japanische Notenbank mittlerweile Aktiva im Wert von mehr als 100 % gemessen am japanischen BIP auf ihrer Bilanz hält (EZB: aktuell 40 %, US-Fed: 25 % im Hochpunkt), ist das Wachstum dort weiterhin extrem schwach und die Inflation äußerst niedrig. Möglich ist sogar, dass die extrem lockere Geldpolitik das strukturell schwache Wachstum mit verschuldet, indem sie Unternehmen ohne funktionierendes Geschäftsmodell durch die Zuführung extrem billigen Geldes künstlich am Leben erhält und damit die Volkswirtschaft insgesamt auf einem niedrigen Wachstumspfad hält. Verbot der StaatsfinanzierungAngesichts der Besonderheit der geldpolitischen Maßnahmen, die als Reaktion auf die Finanz- und Staatsschuldenkrise eingeführt wurden, kamen immer wieder auch Zweifel an der Vereinbarkeit der unorthodoxen Maßnahmen mit dem Mandat der EZB auf – und hier insbesondere mit dem im Maastrichter Vertrag verankerten, ausdrücklichen Verbot der Staatsfinanzierung. Inzwischen wurde die institutionelle Architektur des Euroraums insbesondere mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und der Bankenunion um zentrale Elemente ergänzt, welche die Stabilität der Währungsunion erhöht haben. Dies sollte es der EZB jetzt ermöglichen, den geldpolitischen Kurs stärker im Sinn ihres Mandats auf die Preisstabilität zu fokussieren.Dazu gehört auch die Überprüfung des geldpolitischen Instrumentariums. Das Inflationsziel der EZB ist viel zu eng. Auf die allgemeine Preisentwicklung einer Volkswirtschaft wirken eine Vielzahl von Faktoren ein, zu denen neben der Geldpolitik auch der technologische Fortschritt (Stichwort: Digitalisierung), der grenzüberschreitende Handel (Stichworte: Importpreise, Lohndruck) oder exogene Schocks (Stichwort: volatile Ölpreise) gehören. Davon auszugehen, dass die Geldpolitik in der Lage ist, für eine rund 11 500 Mrd. Euro große, offene Volkswirtschaft die Inflation bei “kleiner, aber nahe 2 %” zu halten, erscheint sehr ambitioniert.Besser wäre es zum Beispiel, wenn das Inflationsziel mit einem Korridor ausgestattet wäre – etwa 2 % +/- 1 Prozentpunkt nach dem Vorbild der schwedischen Riksbank, die 2017 ein “Variationsband” eingeführt hat. Dann wäre nämlich der Befund der letzten Jahre gar nicht so eindringlich gewesen, denn die Kernrate der Inflation im Euroraum befindet sich seit geraumer Zeit stabil in der Nähe von 1 % – ein Wert, der dem im Maastrichter Vertrag verankerten Ziel von Preisstabilität sehr nahe kommt.Insofern ist es zu begrüßen, dass – auch innerhalb des Systems der Europäischen Zentralbanken – erste Stimmen laut werden, die zeitnah zu einer Überprüfung der geldpolitischen Strategie raten. Die Diskussion darüber gehört wohl zu den wichtigsten Aufgaben des neuen EZB-Präsidenten, der im Herbst 2019 sein Amt antritt. Oberste Maßgabe sollte dabei die Rückkehr zur konventionellen Geldpolitik sein, die von kurzfristigen Schwankungen der Konjunktur unabhängig ist, damit sich die Volkswirtschaft und die Finanzmärkte nicht fortlaufend auf der Intensivstation der Geldpolitik befinden. Gefährliche NebenwirkungenWertpapierkäufe und Negativzinsen sollten jedenfalls nicht zuletzt aufgrund der gefährlichen Nebenwirkungen krisenhaften Ausnahmesituationen vorbehalten sein. Keinesfalls rechtfertigt ein “normaler” zyklischer Konjunkturabschwung den Einsatz dieser unkonventionellen Maßnahme. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass die Geldpolitik nicht allmächtig ist. Die EZB wäre daher gut beraten, die Erwartungshaltung zu dämpfen und keinen falsch geleiteten Begehrlichkeiten der Märkte nachzugeben. Klaus Wiener, Chefvolkswirt Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft