NOTIERT IN MOSKAU

Geplagt von Alpträumen

Wenn es darum geht, das private Unternehmertum zu piesacken, waren die russischen Staatsvertreter schon immer recht kreativ - und dreist zugleich. So kommt es, dass die Wirtschaftstreibenden im Moment nicht nur die Last der Sanktionen zu tragen...

Geplagt von Alpträumen

Wenn es darum geht, das private Unternehmertum zu piesacken, waren die russischen Staatsvertreter schon immer recht kreativ – und dreist zugleich. So kommt es, dass die Wirtschaftstreibenden im Moment nicht nur die Last der Sanktionen zu tragen haben, sondern auch vom Kreml wieder einmal in nervöser Anspannung gehalten werden. Konkret von Wladimir Putins oberstem Wirtschaftsberater Andrej Belusow. Dieser hatte – wie kürzlich bekannt wurde – Ende Juli in einem Brief an den Kremlchef vorgeschlagen, sich einen Teil der konjunktur- und wechselkursbedingt überschüssigen Firmeneinnahmen zu schnappen, um einige von Putin im Mai umrissene Großprojekte bis 2024 zu finanzieren. Konkret wollte er 513,66 Mrd. Rubel (6,58 Mrd. Euro) – und zwar von Unternehmen aus dem Metallurgie-, Bergbau- und Chemiesektor. 14 Konzerne befinden sich auf “Belusows Liste”, neun davon sind börsennotiert und mussten in einer ersten Reaktion Mitte August bereits signifikante Kursverluste hinnehmen. Darunter Schwergewichte wie die Stahlkonzerne NLMK und Evraz, der weltweit führende Nickel- und Palladiumproduzent Norilsk Nickel oder der Diamantenkonzern Alrosa.Seither herrscht Aufregung in der russischen Industrie. Sogar Minister sahen sich gezwungen, gegen Belusow aufzutreten. Ein Krisentreffen Ende der Vorwoche brachte zwar die Zusage, dass es keine Steuererhöhung geben würde. Stattdessen aber wurden die Konzerne aufgerufen, ihre “soziale Verantwortung zu verstehen” und nach Möglichkeit bis zu 300 Mrd. Rubel lockerzumachen. Wirklich zur Beruhigung trägt das freilich nicht bei, denn es sieht danach aus, dass nicht die Unternehmer selbst nach wirtschaftlich für sie sinnvollen Kriterien, sondern sehr wohl die Beamten bis Ende des Jahres ausdefinieren werden, in welche Projekte dieses Geld zu fließen hat. Um nämlich Putins Vorgaben für seine vierte Amtszeit zu stemmen (Investitionen in kritische Infrastruktur, Digitalisierung, Ökologie), dürfte das gewöhnliche Budget nicht ausreichen. Kein Wunder, dass sich Marktteilnehmer an die Kommandowirtschaft erinnert fühlen. Auch teilen bei weitem nicht alle Ökonomen Belusows Argument, die Rubel-Abwertung der vergangenen Jahre habe einen starken Effekt in Sachen internationaler Konkurrenzfähigkeit gebracht. So haben etwa die Experten der russischen Zentralbank darauf hingewiesen, dass der Wechselkurs immer weniger Auswirkung auf die Konkurrenzfähigkeit habe. Und die Versuche, allein aufgrund des Wechselkurses zu reüssieren, würden zur technologischen Rückständigkeit führen.Wie dem auch sei: Privates Unternehmertum bleibt in Russland unter Druck und eine Melkkuh für Staat und Beamte. Daran erinnert derzeit auch der Gerichtsprozess gegen Dmitri Sachartschenko, den vormaligen Chef der Abteilung zum Kampf gegen Wirtschaftskriminalität im russischen Innenministerium. In seiner und in den Wohnungen seiner engsten Verwandten wurden ja vor zwei Jahren 120 Mill. Euro gefunden. Was der Prozess tatsächlich ans Licht bringen kann, wird sich erst weisen. Die ersten der 66 Zeugen deuten auf ein System der Erpressung von Unternehmern durch Sachartschenko (und sein Team) hin. Sachartschenko selbst gibt an, dass er sich an Details (etwa den Erhalt von 800 000 Dollar von einem Restaurantbesitzer) nicht erinnern könne. Ja, und überhaupt wolle er als nunmehriger Pensionist seine damalige Arbeit “vergessen wie einen Alptraum”.Ob sie künftig lieber den “Alptraum” eines Staatsangestellten träumen soll oder doch den eines Unternehmers, ist für die russische Jugend offenbar nicht so klar. Eine Anstellung bei Polizei, Militär und im staatlichen Sicherheitsapparat wurde im Laufe der vergangenen Jahre attraktiver. Und so verwundert es nicht, dass laut einer Studie der Moskauer Akademie für Volkswirtschaft diejenigen am optimistischsten auf ihre berufliche Zukunft blicken, die aufgrund ihrer Ausbildung im staatlichen Sicherheitsapparat unterkommen könnten. Geht es um den Verdienst, so steht freilich Unternehmer auf der Liste ganz oben – gefolgt vom Juristen, Finanzdienstleister und abermals vom staatlichen Sicherheitsfunktionär und allgemeinen Beamten. Offenbar ist trotz Alpträumen da nach wie vor viel zu holen.