LEITARTIKEL

Grenzen der Geduld

Nun rächt sich, dass Großbritanniens Premier Boris Johnson die Bewältigung der Pandemie an "die Wissenschaft" ausgelagert hat. Seine Regierung wirkt in hohem Maße inkompetent und lässt jegliche Führung vermissen. Man könnte fast vom strukturellen...

Grenzen der Geduld

Nun rächt sich, dass Großbritanniens Premier Boris Johnson die Bewältigung der Pandemie an “die Wissenschaft” ausgelagert hat. Seine Regierung wirkt in hohem Maße inkompetent und lässt jegliche Führung vermissen. Man könnte fast vom strukturellen Zusammenbruch der Staatlichkeit sprechen, wenn Londoner Polizisten an einem Wochenende vor randalierenden Linksextremisten die Flucht ergreifen, ehe sie am darauffolgenden Wochenende von gewaltbereiten Neonazis durch die Straßen gejagt werden. Die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus wirken wie ein Brandbeschleuniger, der alte Konflikte neu entfacht. Massenentlassungen, die aus den USA importierte Black-Lives-Matter-Debatte um den Tod von George Floyd und die Hoffnungslosigkeit des Lockdowns dürften für einen langen heißen Sommer sorgen.Lange Zeit nutzte Johnson die naive Wissenschaftsgläubigkeit weiter Teile der Bevölkerung für sich aus, indem er die ihm zur Seite stehenden Experten als menschliche Schutzschilde einsetzte. Man folge stets dem Rat der besten Forscher, wiederholte er gebetsmühlenartig, wenn Sinn oder Timing der Anti-Corona-Maßnahmen in Frage gestellt wurden. Das ging gut, solange aus dem Kreis der Wissenschaftler keine abweichenden Meinungen nach draußen drangen. Zuletzt brachen jedoch manche ihr Schweigen, natürlich nicht ohne dabei die eigenen Leistungen im besten Lichte erscheinen zu lassen. Zur Wahrheitsfindung trug das nicht bei, aber es machte deutlich, dass es “die Wissenschaft” als monolithischen Block nicht gibt. Johnson kann sich nicht mehr hinter den Experten verstecken. Und obwohl sich Labour-Chef Keir Starmer bislang stark zurückhält, fällt es Johnson immer schwerer, wie der Chef einer Regierung der nationalen Einheit aufzutreten.In den kommenden Wochen wird es darum gehen, wer Schuld daran hat, dass Großbritannien zu den Ländern mit den höchsten Opferzahlen gehört und enormen wirtschaftlichen Schaden verkraften muss. Der Lockdown hat die zuweilen krasse Inkompetenz von Stellen gezeigt, denen die Briten ihr Leben anvertrauen. Da wurden mit dem Virus infizierte ältere Menschen aus Krankenhäusern in Pflegeheime abgeschoben, um Betten freizumachen, ohne deren Betreiber vorher zu warnen. Krankenpfleger und Ärzte waren gezwungen, ohne die erforderliche Schutzkleidung zu arbeiten, bis die Armee deren Verteilung übernahm. Bis heute betreibt das Militär vielerorts mobile Corona-Teststationen, weil Europas größter Arbeitgeber, der National Health Service, das nicht zuwege bringt. Die britische Verwaltung meldete sich im März größtenteils ab – bei vollem Lohnausgleich versteht sich. Kinderbetreuungseinrichtungen sind geschlossen. Die Schulen sind nur für eine verschwindend kleine Minderheit geöffnet, und es ist keineswegs ausgemacht, dass sie im September wieder für alle ihre Pforten öffnen werden.Zum Glück scheint es bislang keine Probleme bei der Bearbeitung der Anträge auf Sozialhilfe zu geben, deren Zahl rasant gestiegen ist, seitdem Johnson den Lockdown verordnet hat. Auch die mehr als neun Millionen Menschen, deren Löhne der Staat subventioniert, bekommen offenbar ihr Geld. Sonst wären die Grenzen der Geduld längst erreicht. Dass zuletzt mehr als 600 000 sozialversicherungspflichtige Stellen verschwunden sind, zeigt aber, wohin die Reise geht. Bekannte Namen wie British Airways oder Rolls-Royce reduzieren ihre Belegschaften erheblich. Den Firmen ist klar, dass sich ihr Geschäft nicht so schnell erholen wird wie zu Beginn der Pandemie erhofft.Nun wäre der richtige Moment, die Initiative zu ergreifen. Stattdessen erweist sich Johnson beim Thema Corona als ebenso zaghaft wie Theresa May in den Brexit-Verhandlungen. Die Zahl der Neuinfektionen sinkt. Längst könnte vielerorts wieder gearbeitet werden. Doch statt der Frage, wie der Weg zurück in die Normalität aussehen soll, bestimmt eine giftige Rassismusdebatte die Schlagzeilen. Wird sie nicht schnell wieder eingefangen, drohen Unruhen wie 2011. Damals war Mark Duggan die Symbolfigur – für die einen ein gefährlicher Krimineller, für die anderen ein unbescholtener Familienvater, der allein wegen seiner Hautfarbe von der Polizei erschossen wurde. Eigentlich ist es Aufgabe einer Regierung, Akzente zu setzen, wenn ein Thema so starke emotionale Reaktionen hervorruft. Stattdessen blickt sie auf die Proteste wie das Kaninchen auf die Schlange. So wird es Johnson nicht schaffen, das Land zusammenzuführen. Das wäre aber dringend nötig, um den Wiederaufbau zu meistern.——Von Andreas HippinBoris Johnson erweist sich beim Thema Corona als so zaghaft wie Theresa May in den Brexit-Verhandlungen. Dabei müsste jetzt gehandelt werden.——