Großaufträge bringen der deutschen Industrie unerwartete Bestellflut
Großaufträge sorgen für Bestellflut für die Industrie
Zweites unerwartet kräftiges Plus in Folge – Aussichten für Rest des Jahres bleiben aber trübe
ba Frankfurt
Großaufträge haben im Juni überraschend für den kräftigsten Auftragssegen des verarbeitenden Gewerbes seit drei Jahren gesorgt. Trotz des Sondereffekts zeigten sich Ökonomen nur geringfügig optimistischer, auch wenn sich die Bestellungen insgesamt im bisherigen Jahresverlauf als besser als erwartet herausstellten – für das zweite Halbjahr erwarten sie dennoch einen holprigen Konjunkturverlauf. Denn ebenso wie die beispiellosen Zinserhöhungen der Europäischen Zentralbank (EZB) werden sich auch die dürftigen Ordereingänge des Vorjahres erst in den kommenden Monaten bemerkbar machen.
Laut Statistischem Bundesamt (Destatis) kletterten die Auftragseingänge im Juni preis-, saison- und kalenderbereinigt um 7,0% im Monatsvergleich. Ein kräftigeres Plus hatte es zuletzt zur Hochzeit der ersten Coronawelle gegeben, nämlich im Juni 2020 mit 28,5%. Ökonomen hatten im Schnitt einen Rückgang um 2,2% erwartet, nachdem die Bestellungen im Mai mit revidiert 6,2 (zunächst: 6,4)% ebenfalls unerwartet kräftig ausgefallen war. „Durch die beiden deutlichen Anstiege in den Monaten Mai und Juni ist der Auftragseinbruch im März (–10,9%) also ausgeglichen worden“, betonten die Wiesbadener Statistiker. Im weniger volatilen Dreimonatsvergleich blieb der Auftragseingang von April bis Juni mit einem Plus von 0,2% zu den vorigen drei Monaten nahezu unverändert. „Dennoch bleiben die Aussichten für die Industriekonjunktur angesichts des weiter eingetrübten Geschäftsklimas und der schwachen Weltkonjunktur vorerst verhalten“, erklärte dazu das Bundeswirtschaftsministerium.
Die Analysen der Ökonomen enthalten bei allem Positivem stets eine Warnung vor zu viel Euphorie. „Wieder einmal eine faustdicke Überraschung, allerdings auf der erfreulichen Seite. Ist die Rezession am Ende nur ein böser Traum gewesen?“, urteilt Jens-Oliver Niklasch von der LBBW, nicht ohne auf die schwachen Frühindikatoren zu verweisen. „Es sieht so aus, als sei der Abwärtstrend in eine Stabilisierung übergegangen“, analysierte Alexander Krüger, Chefvolkswirt der Hauck Aufhäuser Lampe Privatbank. Die schwache Weltwirtschaft und hohe Energiekosten würden als Belastung erhalten bleiben, so dass sich der Daumen über dem Industriesektor „noch nicht nach oben dreht“.
Zeitversatz berücksichtigen
„Zumindest auf den ersten Blick ist dies ein ‚Hammer‘“, schreibt Commerzbank-Ökonom Ralph Solveen. Allerdings ziehe sich das Abarbeiten von Großaufträgen meist über eine lange Zeit hin, weshalb ihr Einfluss auf die Produktionsentwicklung kleiner sei als auf die Auftragseingänge in dem entsprechenden Monat. „Für die Aussichten für die Produktion in den kommenden Monaten ist deshalb die Kerngröße der bessere Indikator, und diese zeigt weiter nach unten.“ Bleiben die Großaufträge, die es laut Destatis in mehreren Bereichen gab, unberücksichtigt, wäre der Auftragseingang um 2,6% im Monatsvergleich gefallen. Bereits im Mai blieb nach Herausrechnung dieser volatilen Komponente nur mehr die Hälfte des Auftragszuwachses übrig.
Im Juni waren es Destatis zufolge vor allem ein Großauftrag im Luft- und Raumfahrzeugbau, der die Aufträge im Bereich des sonstigen Fahrzeugbaus um 89,2% steigen ließ. Bantleon-Ökonom Daniel Hartmann nennt hier die Bestellung der Fluggesellschaft Indigo von 500 Maschinen bei Airbus in einem Volumen von rund 50 Mrd. Euro. Zum anderen hätte Siemens einen Milliarden-Auftrag aus Ägypten zur Erstellung eines Hochgeschwindigkeitsbahnnetzes erhalten im Volumen von rund 80 Mrd. Euro. „Dies korrespondiert damit, dass der Auftragseingang in der Luft- und Raumfahrt um 180% und im Schienenfahrzeugbau um 150% zulegte“, erläutert Hartmann. Einen stark positiven Einfluss auf das Gesamtergebnis hatte auch der gewichtige Bereich des Maschinenbaus, hier legten die Orderzahlen um 5,1% zu. Deutlich negativ entwickelten sich hingegen die Aufträge im Bereich Kfz und Kfz-Teile – hier weist Destatis ein Minus von 7,3% aus. „Für die Automobilbauer bleibt die Situation derweil schwierig“, mahnte Thomas Gitzel, Chefökonom der VP Bank. Im Juli war die Produktion laut Branchenverband VDA um 20% auf rund 300.300 Pkw gestiegen.