Großer Bahnhof in Jinan
Jinan, in der Provinz Shandong gelegen, ist eigentlich ein eher unaufgeregtes Plätzchen, zumindest im Vergleich mit anderen chinesischen Provinzhauptstädten. Gerade einmal sechs Millionen Einwohner – das sind Dimensionen, die in China noch Vorstellungen von urbaner Gemütlichkeit wecken. Geografisch ist Jinan, vom Tai’an-Gebirgsmassiv umsäumt, einigermaßen beschaulich in einem Talkessel unweit des Gelben Flusses gelegen. Die letzten Tage aber haben Jinan in einen Hexenkessel verwandelt. Das dortige Gericht ist, warum auch immer, zum Schauplatz des großen Schauprozesses gegen den abgesägten einstigen Starpolitiker Bo Xilai geworden. Es geht um Amtsmissbrauch und Korruption.Für Jinan sprach wohl, dass es irgendwie abgelegen, aber als eine Etappe auf der bestens frequentierten Eisenbahnschnellstrecke zwischen Peking und Schanghai verkehrstechnisch hervorragend angebunden ist. In Peking will der chinesische Führungsapparat einen Bo Xilai nicht mehr sehen. Seine früheren Wirkungsstätten Chongqing und Dalian, wo er als charismatischer Provinzgouverneur und Bürgermeister noch zahlreiche Fans hat, kamen für den großen Bahnhof natürlich auch nicht in Frage. *Der Prozess in Jinan ist so ungewöhnlich, dass er in jedem Fall chinesische Rechtsgeschichte schreiben wird. Statt der üblichen Informationsarmut wurden die Originalprotokolle der Sitzungen zeitnah über ein Internetportal verbreitet. Da staunt selbst Chinas abgebrühte Blogger-Gemeinde. Und es gibt Bildmaterial, das den kämpferischen Angeklagten nicht einmal unvorteilhaft in Szene setzt.Völlig von den Socken ist man in der chinesischen Strafrechtler-Community über einen Drehbuchwechsel. Hochrangige Prozesse, in denen Politiker oder Funktionäre der Korruption angeklagt wurden, – zuletzt war der langjährige Eisenbahnminister im wahrsten Sinne des Wortes dran – kannten bislang nur ein Skript: Die Anklagepunkte werden brav abgenickt, die Schuldfrage gilt als erledigt. Die Verteidiger haben außer der Erwähnung mildernder Umstände wenig beizutragen. Der Angeklagte ist reumütig und in der Wahl der Garderobe meist auf gestreifte Sträflingspyjamas sowie optional Hand- oder Fußschellen beschränkt.In Jinan aber weht ein Hauch von “innocent until proven guilty” durch den Saal. Herr Bo steht aufrecht und unangekettet in einem ordentlichen weißen Hemd und setzt seine beträchtlichen rhetorischen Fertigkeiten zum Retten der eigenen Haut ein. Es werden alle Register gezogen, um Beweismaterial in Frage zu stellen und Zeugen der Anklage zu diskreditieren. Chinas Staranwälte zeigen sich angenehm überrascht. Sie hatten das seltsame Gefühl, einem echten Gerichtsverfahren und einer funktionsfähigen Verteidigung beizuwohnen. *Wird Jinan mit Ablauf des Prozesses wieder in die gewohnte Unbedeutsamkeit zurückgleiten? Aber nein, es steht ein neuer großer Bahnhof an. Anders als der unbeugsame Bo zeigt die Stadtverwaltung Reue für Sünden der Vergangenheit und will diese ganz neu und im Detail aufgerollt wissen.Jinan gehörte, wie auch das bekanntere Tsingtao, zum einst von Deutschen kolonisierten Zipfel der Volksrepublik. In Jinan bestand die Hinterlassenschaft allerdings weniger aus Brauereien als aus einem wunderschönen Bahnhofsgebäude mit prächtigem Uhrenturm, von dem es heute nur noch schöne Bilder und Erinnerungen gibt. Im Jahr 1992 wurde alles in einem Anfall von stadtplanerischem Wahnsinn trotz Bitten und Bettelns der Anwohner abgerissen.Damals hieß es, Relikte der bedrückenden Kolonialvergangenheit müssten verschwinden. Nun aber träumt die Stadtverwaltung von einem Wiederaufleben historischen Charmes und will chinesische Kopierkunst walten lassen.Die Baupläne des Turms sind nicht mehr vorhanden, die alten Materialien nicht mehr verfügbar und der Stellplatz wird nicht am Originalstandpunkt sein. Aber man möchte den nostalgischen Bedürfnissen der Anwohner irgendwie gerecht werden. Jinan soll Mahnmal sein, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen.