EZB-STRATEGIEÜBERPRÜFUNG

Grundsatzdebatte in Zeiten extremer Unsicherheit

EZB-Strategieüberprüfung im Fokus des Sintra-Forums - Differenzen über Fed-Schwenk - Ex-Notenbanker Goodhart: Absolut falscher Zeitpunkt für Review

Grundsatzdebatte in Zeiten extremer Unsicherheit

Das Sintra-Forum der EZB findet in diesem Jahr rein virtuell statt. Statt in der früheren Sommerresidenz der portugiesischen Könige versammeln sich Notenbanker wie EZB-Chefin Christine Lagarde und Fed-Chef Jerome Powell also vor den Bildschirmen. Inhaltlich dreht sich alles vor allem um die EZB-Strategieüberprüfung. Von Mark Schrörs, Frankfurt”Central banks in a shifting world”, übersetzt: Zentralbanken in einer sich verändernden Welt – so lautet das Thema des diesjährigen Sintra-Forums der Europäischen Zentralbank (EZB) heute und morgen. Somit geht es auch bei dem Forum um Themen, die auch die laufende Überprüfung der EZB-Strategie prägen. Eigentlich hatte die EZB die erste Review seit 2003 Anfang 2020 starten und zu Jahresende bereits die Ergebnisse präsentieren wollen. Aber dann machte Covid-19 ihr einen Strich durch die Rechnung.Zwar hat sich die Corona-Lage nun wieder dramatisch zugespitzt, was die EZB auch auf eine erneute Lockerung ihrer Geldpolitik Mitte Dezember zusteuern lässt. Trotzdem sind Lagarde & Co. jetzt entschlossen, auch die Review voranzubringen. Im Oktober hatte EZB-Präsidentin Christine Lagarde unter dem Motto “ECB listens” erstmals mit Vertretern der breiten Zivilgesellschaft diskutiert. In Sintra folgt nun der Austausch mit den Fachexperten. Im Mittelpunkt der Review steht das Inflationsziel, zumal Preisstabilität laut EU-Vertrag das vorrangige Mandat der EZB ist. Derzeit strebt der EZB-Rat mittelfristig eine Inflationsrate von “unter, aber nahe 2 %” an. Unklar und im Rat teils umstritten ist, was damit genau gemeint ist. Immer wieder für Diskussionen sorgt zudem, ob die knapp 2 % wegen des “unter” als eine Art Obergrenze zu verstehen sind – auch wenn der Rat schon unter Mario Draghi zunehmend die Symmetrie betont hatte, dass also zu niedrige Raten genauso bekämpft gehörten wie zu hohe.Bereits Ende 2019 hatte die EZB ein 336 Seiten starkes Arbeitspapier über 20 Jahre EZB-Geldpolitik herausgebracht, das so mancher Beobachter als eine Art Blaupause für die Strategieüberprüfung sieht. Die zentrale Botschaft: Die EZB-Strategie, in der die 2-Prozent-Inflationsmarke eher als Obergrenze fungierte, habe in den ersten Jahren gut funktioniert, als es darum ging, eine zu hohe Inflation zu bekämpfen. In Zeiten mit stark disinflationären Kräften sei das aber nicht mehr der Fall.Tatsächlich scheint die Diskussion in Notenbankkreisen jetzt zunehmend darauf hinauszulaufen, das Ziel auf (rund) 2 % zu präzisieren und explizit die Symmetrie hervorzuheben. Umstrittener ist die Frage, ob der jüngste, historische Strategieschwenk der US-Notenbank hin zu einem durchschnittlichen Inflationsziel (“Average Inflation Targeting”) ein Vorbild sein sollte. Statt jedes Jahr aufs Neue 2 % anzuvisieren, will die Fed nun über einen bestimmten Zeitraum im Schnitt 2 % anstreben und Verfehlungen in der Zukunft ausgleichen. Konkret läuft das nach Jahren unterhalb des 2-Prozent-Ziels auf Jahre mit Raten oberhalb von 2 % hinaus. Auch die EZB unterschreitet ihr Ziel im Grunde seit Mitte 2013.Zunehmend für Diskussionen sorgt auch das EZB-Mandat selbst. Frankreichs Notenbankchef François Villeroy de Galhau argumentiert, dass Preisstabilität zwar das vorrangige Mandat sei, es sich aber nicht um ein reines einzelnes Mandat handele. Vielmehr habe die EZB eine Art “zweistufiges Mandat”. Die EZB solle die Wirtschaftspolitik unterstützen und damit Ziele wie Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt, solange das die Preisstabilität nicht beeinträchtige. Tatsächlich steht es so in Art. 127 EU-Vertrag. Die genaue Interpretation ist aber umstritten. So warnt nicht zuletzt Weidmann vor einer zu breiten Auslegung.Während die allermeisten Beobachter die Review der EZB per se loben, hat der britische Top-Ökonom und Ex-Notenbanker Charles Goodhart eine andere Sicht: “Der jetzige Zeitpunkt ist der denkbar schlechteste, um zu versuchen, eine neue Strategie zu entwickeln”, sagte Goodhart der Börsen-Zeitung auf Anfrage. “Die gegenwärtige Situation ist nicht nur außergewöhnlich und hoffentlich einzigartig, sondern es besteht auch eine enorme Unsicherheit.” Das gelte kurzfristig über den Verlauf der Pandemie, mittelfristig darüber, wie die wirtschaftliche Erholung ablaufe, und längerfristig über sich stark verändernde Grundtendenzen, etwa im Bereich der Demografie. “Unter diesen Bedingungen wäre es am besten, so viel Flexibilität wie möglich beizubehalten”, so Goodhart. “Es ist genau der falsche Zeitpunkt, sich auf eine feste Strategie festzulegen.”