NOTIERT IN LONDON

Heiße Luft, klimaneutral

"Wir brauchen eine mutige, neue, positive Vision für die Zukunft unseres Landes - eine Vision für ein Land, das für alle funktioniert, nicht nur für Privilegierte", hatte die britische Premierministerin Theresa May vor drei Jahren in Birmingham...

Heiße Luft, klimaneutral

“Wir brauchen eine mutige, neue, positive Vision für die Zukunft unseres Landes – eine Vision für ein Land, das für alle funktioniert, nicht nur für Privilegierte”, hatte die britische Premierministerin Theresa May vor drei Jahren in Birmingham gesagt. Damals war noch nicht klar, dass sie David Camerons Amt erben würde. Sie bemängelte soziale Ungleichheit und das mangelnde Vertrauen der Menschen in die politischen Institutionen. “Wer heute arm geboren wird, stirbt im Schnitt neun Jahre früher als die anderen”, gab May zu. Sie räumte auch ein, dass Schwarze von der Strafjustiz härter angefasst werden als Weiße. Für weiße Jungen aus der Arbeiterklasse sei es am unwahrscheinlichsten, dass sie eine Universitätsausbildung erhielten. Klassendenken bestimme nach wie vor die politische Debatte im Vereinigten Königreich. Seitdem hat sich dem neuesten Bericht der Social Mobility Commission zufolge nichts geändert – “Mayonomics” erwies sich als Rohrkrepierer.Die soziale Mobilität stagniert seit 2014. Staatliches Handeln trug noch dazu bei. So muss zumindest ein Elternteil 16 Stunden die Woche arbeiten, um in den Genuss von 30 Stunden kostenloser Kinderbetreuung zu kommen. Würde diese Schwelle auf acht Stunden gesenkt, hätten mehr arme Familien Zugang. Dass das nicht so ist, macht sich in den Grundschulen bemerkbar. Derzeit liegt der Abstand zwischen sechsjährigen Kindern, die Anspruch auf ein kostenloses Schulessen haben, und Gleichaltrigen beim phonetischen Lesen bei 14 %. Bei den Siebenjährigen hat sich der Abstand beim Lesen auf 18 % ausgeweitet, beim Schreiben sind es 20 %, beim Rechnen 18 %. Ungleichheit sei in Großbritannien von der Geburt bis ins Arbeitsleben fest verwurzelt, heißt es in dem Bericht. Die Regierung müsse dringend handeln, um den Abstand zwischen Armen und Privilegierten zu verringern.Man darf davon ausgehen, dass die Empfehlungen der Kommission zwar zur Kenntnis genommen, aber nicht zu politischen Veränderungen führen werden. Manchmal kann man auch nur hoffen, dass die Vorschläge solcher Kommissionen nicht weiter beachtet werden, etwa beim 2008 eingerichteten Committee on Climate Change (CCC), dessen Verlautbarungen sich nach den jüngsten Protesten von Klimaschützern der besonderen Aufmerksamkeit der Medien erfreuten.Den Vorsitz des Gremiums hat John Gummer inne. Er war als Landwirtschaftsminister unter John Major für Lebensmittelsicherheit zuständig, als in Britannien der Rinderwahnsinn wütete. Im Internet ist noch ein Video zu finden, das ihn dabei zeigt, wie er seiner Tochter einen Hamburger aufzwingen will, um die Unbedenklichkeit von Rindfleisch zu demonstrieren. Nun empfiehlt er, die CO2-Emissionen bis zum Jahr 2050 nicht nur auf 80 % des Standes von 1990 herunterzufahren, sondern auf “net zero”. Anders als Norwegen und Schweden soll Britannien dafür keine Emissionszertifikate verwenden. Die zum Erreichen dieses Ziels notwendigen Maßnahmen hätten erhebliche Auswirkungen auf den Alltag der Briten. Die Regierung müsste sich dazu durchringen, großformatige CCS-Projekte (Carbon Capture & Storage) an den Start zu bringen, bei denen das entstehende CO2 nicht in die Atmosphäre gelangt. Sie schreckte bereits zwei Mal davor zurück. Der Konsum von Rindfleisch, Lammfleisch und Milchprodukten müsste um ein Fünftel reduziert werden. Zudem müssten Autobesitzer schneller auf Elektroautos umsteigen, Hauseigentümer ihre 26 Millionen Gasheizungen durch Wärmepumpen oder andere Alternativen ersetzen. Flugreisen würden zwangsläufig teurer. Ab 2035 könnten Passagiere dazu gezwungen werden, Emissionszertifikate zu kaufen, um den von ihnen verursachten CO2-Ausstoß zu kompensieren. Alles in allem ließen sich die Maßnahmen wohl nur unter einer Militärdiktatur durchsetzen. Unterdessen wies der High Court eine Klage gegen den Bau der dritten Start- und Landebahn in Heathrow zurück, die statt 480 000 Flügen jährlich 740 000 ermöglichen soll.Alles nur heiße Luft also? Ja, aber klimaneutral. Und Gummer wie Greta haben den Briten eine willkommene Ablenkung vom täglichen Chaos in Westminster geliefert. Wen interessiert schon der Brexit, wenn das Überleben der Menschheit auf dem Spiel steht?