Im Interview:Silvain Broyer und Christian Esters

„Höheres Potenzialwachstum würde helfen“

Die Ratingexperten von Standard & Poor’s sehen keinen Rutschbahneffekt bei der Staatsverschuldung, wenn eine bestimme Quote überschritten ist. Die Geldpolitik muss aber vor Monetisierung der Schulden über die Notenbankbilanz abgeschirmt werden.

„Höheres Potenzialwachstum würde helfen“

Im Interview: Sylvain Broyer und Christian Esters

„Höheres Potenzialwachstum würde helfen“

S&P lobt Deutschland wegen guter Fiskalperformance, hält aber die fehlende Wirtschaftsdynamik und die zu geringen Investitionen für gefährlich

Die Ratingexperten von Standard & Poors sehen keinen Rutschbahneffekt bei der Staatsverschuldung, wenn eine bestimme Quote überschritten ist. Denn auch die Tiefe der Kapitalmärkte und der Status der Währung sind mitentscheidend. Notenbanken sollten aber vor der Monetisierung der Staatsschulden stärker geschützt werden.

Herr Broyer, Herr Esters, im Moment sieht es nicht danach aus, dass sich die allermeisten Staaten Sorgen um die ausufernde Staatsverschuldung machen würden – trotz laufender Defizitverfahren etwa für Frankreich und Mahnungen des Internationalen Währungsfonds an die USA. Treibt Sie das nicht um als Ratingagentur?

Christian Esters: Die globalen Krisen der vergangenen Jahre (Covid, Energiepreise) haben oft zu stark zunehmender Staatsverschuldung geführt. Und wir erwarten in der Tat, dass einige G7-Sovereigns auch in den nächsten Jahren angesichts steigender Zinssätze und einer Verlangsamung des nominalen Wachstums keine Budgetkonsolidierung erreichen werden, die ausreichend wäre, um die Verschuldungsquote in Bezug zur Wirtschaftsleistung (BIP) zu stabilisieren. Dies ist eine besondere Herausforderung vor allem für EU-Länder, in denen das reale Wirtschaftswachstum im internationalen Vergleich eher gering ist. So haben wir im Mai 2024 das Sovereign Rating für Frankreich um einen Notch heruntergenommen.

Das erscheint mir aber noch sehr zurückhaltend angesichts einer Schuldenquote von 111% des BIP!

Esters: Sie müssen bedenken, dass unsere Sovereign Ratings auch die bestehende Wirtschaftskraft eines Landes reflektieren sowie die Tiefe seiner Kapitalmärkte, die monetäre Flexibilität, die außenwirtschaftliche Position und die Stärke der Institutionen des Landes. Entwickelte Wirtschaften verfügen meist über „harte“ Währungen, in denen sie sich finanzieren können, und sie können die Ersparnisse in ihren eigenen Volkswirtschaften für ihre Staatsverschuldung anzapfen. So werden etwa mehr als die Hälfte der Staatsschulden Japans, Italiens oder Großbritanniens im Land gehalten, häufig von eigenen Steuerzahlern. G7-Sovereigns haben zudem eher wenig Fremdwährungsverschuldung und obendrein Erfahrungen, mit politischen oder wirtschaftlichen Krisensituationen umzugehen.


Die Interviewpartner

Sylvain Broyer ist leitender Ökonom für die EMEA-Region bei S&P Global Ratings. Er führte zuvor die volkswirtschaftliche Abteilung der französischen Investmentbank Natixis und war Mitglied der Geschäftsführung der deutschen Niederlassung. Broyer ist zudem Mitglied verschiedener Beratungsgruppen des öffentlichen Sektors (Europäische Investitionsbank, Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde, französische Marktregulierungsbehörde). Er hat an den Universitäten Frankfurt und Lyon in Wirtschaftswissenschaften promoviert, ist zertifiziertes Mitglied der International Capital Market Association (ICMA) und unterrichtet an der Universität Paris-Dauphine im Rahmen des Master-Studiengangs Banking & Finance.
Christian Esters ist Geschäftsführer und Leiter der Analyseabteilung der S&P Global Sovereign Ratings Group. Er verfügt über langjährige Erfahrung im Ratinggeschäft für Schwellen- und Industrieländer. Sein derzeitiges Team in Frankfurt und London konzentriert sich auf Mittel- und Osteuropa, die GUS, die Türkei und Israel. Zuvor war Esters in Dubai ansässig, wo er das Team für Sovereign und Bank Ratings im Nahen Osten und Afrika leitete. Er ist zudem Vorsitzender des Ratingausschusses für Länderratings in Schwellen- und Industrieländern. Er verfügt über Erfahrung in der Projektfinanzierung und strukturierten Finanzierung, hat an der Universität Passau studiert und hält einen Master of Public Administration der École Nationale d’Administration (ENA), Paris/Straßburg. Vor kurzem hat er ein Zertifikat in künstlicher Intelligenz an der Universität Oxford erworben.

Einzig Deutschland scheint als größeres Land in der Eurozone noch auf Kurs zu sein: Die Schuldenbremse wird eingehalten, die Schuldenquote bewegt sich nur knapp über der 60-Prozent-Marke. Doch auch hier drängen Ökonomen und Unternehmen zur Reform der Schuldenregel oder – alternativ – zur Auflegung eines großen Investitionsfonds außerhalb des Haushalts. Was ist Ihr Ratschlag?

Sylvain Broyer: Im Falle Deutschlands, das bei S&P die bestmögliche Kreditwürdigkeit erhält, gehört die Fiskalperformance eindeutig zu den besten. Die Frage zur Schuldentragfähigkeit ist aber zudem verknüpft mit den mittelfristigen Wachstumsaussichten angesichts der demografischen Entwicklung und der Erosion eines auf den Welthandel ausgerichteten Wachstumsmodells unter den derzeitigen geopolitischen und internationalen Wettbewerbsbedingungen.

Höheres Potenzialwachstum würde Deutschland sicherlich helfen.

Sylvain Broyer

Und was heißt das jetzt konkret für Ihre Einschätzung der künftigen Schuldentragfähigkeit Deutschlands?

Broyer: Höheres Potenzialwachstum würde sicherlich helfen.

Esters: Wir erwarten, dass sich die Netto-Verschuldungsquote von Deutschland in den nächsten drei Jahren aufgrund nur geringer Defizite leicht verringert, auf 56% des BIP in 2027. Die mittelfristigen Aussichten für die Fiskalpolitik sind in der Tat von Druck durch Renten- und Gesundheitsausgaben geprägt. Andererseits erwarten wir, dass die Renten-und Gesundheitssysteme auch in Zukunft angepasst werden, um den Ausgabendruck abzufangen.

Der IWF geht von steigenden Schuldenquoten weltweit aus. Ein globales Problem also. Sehen Sie das auch so?

Esters: Wir erwarten, dass sich die Verschuldungsquote in Bezug auf das BIP in einigen westlichen Staaten in den nächsten drei Jahren um bis zu mittlere einstellige Prozentpunkte erhöhen wird. Zum Beispiel in den USA um fast 6% des BIP und in Italien um 5%. Für andere Länder erwarten wir aber auch sinkende Quoten, etwa für Großbritannien oder Spanien. Im Falle von China rechnen wir mit einem Anstieg der Brutto-Verschuldung von 60% in 2023 auf etwas unter 70% in 2027. Chinas Nettoverschuldung würde nach unserer Rechnung mehr als 10 Prozentpunkte niedriger liegen, wenn wir auch Guthaben der Regierung und Vermögen der China Investment Corp sowie des National Council of Social Security Fund berücksichtigen würden. Ich möchte aber nochmal betonen, dass die Verschuldungsquote nur einer unter vielen Faktoren eines Sovereign-Ratings darstellt.

Broyer: Und es ist auch zu betonen, dass diese Projektionen auf einem makroökonomischen Szenario beruhen, das wir heute als das wahrscheinlichste ansehen. Das könnte durch Schocks aus den Fugen geraten.

Der IWF indes ist deutlich pessimistischer und rechnet in seiner jüngsten Prognose für das Jahr 2027 sogar mit 110%.

Diese Zahl des IWF beinhaltet die Verschuldung der sogenannten Local Government Financing Vehicles (LGFV). Wir berücksichtigen diese zusätzliche Verschuldung als Eventualverbindlichkeit in unserem Sovereign Rating für China, halten sie jedoch für schwierig zu quantifizieren.

Zuletzt haben vor allem Vertreter der Modern Monetary Theory (MMT) unter den Ökonomen die Staatsverschuldung weniger kritisch gesehen. Wird das Thema in der finanzpolitischen Debatte zu hoch gespielt?

Broyer: Historisch gesehen entwickelt sich eine Wirtschaftstheorie immer in einem bestimmten Kontext. Es ist möglich, dass viele Ökonomen und Vertreter der MMT vom damals herrschenden Kontext dauerhaft negativer Realzinsen beeinflusst wurden. Dauerhafte negative Realzinsen lassen die Finanzierung des Staatshaushalts tatsächlich einfach erscheinen. Heute sind die Realzinsen aber kaum noch negativ und sogar positiv für Länder wie USA, Frankreich oder Italien. In diesem Kontext müssen Staaten sich mehr anstrengen, um ihre Staatsschuldenquote stabil zu halten.

Was an der Modern Monetary Theory (MMT) richtig ist, ist nicht neu, und was neu ist, ist nicht richtig.

Sylvain Broyer

Also letztlich ein ökonomischer Fauxpas der MMT-Anhänger?

Broyer: Wie es britische Ökonomen einmal formuliert haben: Was am MMT richtig ist, ist nicht neu, und was neu ist, ist nicht richtig. Was die MMT richtig macht, ist, uns alle daran zu erinnern, dass die Schulden eines Staates nicht isoliert betrachtet werden dürfen, sondern im Zusammenhang mit den Transaktionen und Bilanzen anderer Wirtschaftsagenten und der Zentralbank gesehen werden müssen. Denn die Verbindlichkeiten der einen sind die Forderungen der anderen. Was die MMT dagegen nicht richtig sieht, ist, dass Staatsdefizite sich immer problemlos am Ende der Periode finanzieren lassen. Es gibt nicht viele empirische Belege für öffentliche Ausgaben mit einem Multiplikatoreffekt von eins oder mehr.

In Bezug auf Deutschland hatten Sie ja schon auf die nachteilige demografische Entwicklung hingewiesen. Was folgt daraus? Jetzt noch mehr sparen? Oder eher mehr investieren und sich dafür gegebenenfalls auch höher verschulden?

Broyer: Eine schrumpfende Volkswirtschaft reduziert die Kraft der Steuerzahler. Wenn dann auch noch die Zahl der Steuerzahler schwindet, verschärft sich das Missverhältnis. Den Staaten steht jedoch eine breite Palette an Instrumenten zur Verfügung, um dieses zu korrigieren: steuerpolitische Maßnahmen, Einwanderungspolitik, Regulierung der Wirtschaft, insbesondere des Arbeitsmarktes, öffentliche Investitionen. Die Gestaltung einer wettbewerbsfähigen Wirtschaftsordnung und die Bereitstellung öffentlicher Güter, die sich eignen, private Investitionen zu vervielfachen, sind aber wesentliche Voraussetzungen für die Expansion einer Marktwirtschaft und damit eine bessere Schuldentragfähigkeit auf lange Sicht.

Konkret? Also eher mehr Geld für Investitionen bereitstellen?

Broyer: Ja. Mehr Geld für öffentliche Investitionen – das hat aber begonnen – sowie mehr Anreize, um private Investitionen zu fördern. Dass in Deutschland Investitionsstau besteht, ist ja wirklich kein Geheimnis. Anders als in den USA oder als in Großbritannien ist die Sparquote hierzulande höher als die Investitionsquote.

Glauben Sie ernsthaft daran, dass mittelfristig die Verschuldungsquoten wieder einmal nachhaltig zurückgehen? Oder läuft die ganze Entwicklung weltweit nicht eher auf eine Staatsfinanzierung via Notenbank hinaus, wie in Japan praktiziert?

Esters: Grundsätzlich ist eine glaubwürdige Zentralbank wichtig für eine effektive Geldpolitik, die in Krisensituationen – neben der Fiskalpolitik – mit entsprechenden Maßnahmen auf eine Stabilisierung der Wirtschaft hinwirken kann. In der Tat hat es aber auch immer wieder Beispiele gegeben, in denen Zentralbanken Teile der Staatsverschuldung auf ihre Bilanz genommen haben. Auch die EZB hat ja verschiedene entsprechende Programme gehabt, und das TPI (Transmission Protection Instrument) sieht in bestimmten Situationen ja auch künftig eine solche Möglichkeit vor.

Broyer: Und die EZB hat angekündigt, mittelfristig ein „strukturelles“ Bondportfolio einzuführen.

Also die Vorstufe zur Staatsfinanzierung auf breitere Grundlage?

Broyer: Man muss den Kontext im Blick behalten: Die Zentralbanken haben den Schock der Pandemie absorbiert, zugleich aber ihre Inflationsziele eingehalten und hatten obendrein sogar ein Problem mit zu niedriger Inflation. Inzwischen haben viele begonnen, ihre Bilanzsumme zu reduzieren, manchmal sogar durch den Verkauf von Anleihen. Und das mit Erfolg. Wir gehen davon aus, dass die EZB den Einsatz des TPI nicht als erste Verteidigungslinie ansieht und dass der EU-Vertrag einer Monetisierung der Staatsschulden wie in Japan oder wie von der MMT manchmal vorgeschlagen entgegensteht. Wir werden die Debatte in der EZB über die Einführung eines strukturellen Anleiheportfolios insofern mit Interesse verfolgen.

Es gibt aus Sicht einer Ratingagentur keinen allgemeingültigen kritischen Wert für die Schuldenquote.

Christian Esters

Was aber passiert, wenn die Staaten ihre Schulden tatsächlich mittelfristig nicht in den Griff bekommen? Kommt dann ein Schuldenschnitt? Oder läuft es auf eine Inflationierung hinaus? Wann ist der Knackpunkt erreicht, ab dem es kein Zurück mehr gibt? Einst wurde eine Marke von deutlich über 90% Schuldenquote als solche identifiziert.

Esters: Es gibt aus Sicht einer Ratingagentur keinen allgemeingültigen kritischen Wert. So hat Japan eine sehr hohe Nettoverschuldungsquote von über 160% des BIP und dennoch ein robustes Investment Grade Rating von „A+“. Gleichzeitig wird der Großteil der japanischen Staatsverschuldung von inländischen Investoren gehalten. Zudem ist die japanische Gesamtwirtschaft der weltweit größte Gläubiger gegenüber dem Rest der Welt. Demgegenüber befindet sich Ghana immer noch in Default, obwohl die Verschuldungsquote nur bei 60% des BIP liegt.

Broyer: Vielleicht gibt es daher eine Lehre für Europa: Die Tiefe der Kapitalmärkte und der Status der Währung sind wichtig, um die Schulden zu absorbieren. Oft wird dabei an die Bilanz der Zentralbank gedacht, aber die Schaffung einer Kapitalmarktunion und die Vollendung der Bankenunion in Europa würden den internationalen Status des Euro verbessern, die inländische Verwendung unserer reichlichen Ersparnisse fördern und praktische Antworten auf die grundlegende Frage der Schuldentragfähigkeit in Europa geben. Es ist insofern erfreulich, dass Deutschland diese Initiativen unterstützt.

Das Interview führte Stephan Lorz.

Das Interview führte Stephan Lorz.

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.