NOTIERT IN LONDON

Home of the Chavs

Die wohlmeinenden Akademiker, Künstler und Studenten, die in den vergangenen Tagen den Mord an George Floyd in Minneapolis dazu nutzten, in der Londoner Innenstadt mehr Führungspositionen und Boardmandate für Schwarze zu fordern, würden sich im...

Home of the Chavs

Die wohlmeinenden Akademiker, Künstler und Studenten, die in den vergangenen Tagen den Mord an George Floyd in Minneapolis dazu nutzten, in der Londoner Innenstadt mehr Führungspositionen und Boardmandate für Schwarze zu fordern, würden sich im Leben nicht nach Dagenham verirren. In diesem Stadtteil im Osten der britischen Metropole leben die Angehörigen der ethnischen Minderheiten, in deren Namen sie auftreten, Seite an Seite mit den “Chavs”, den ungebildeten und ungewaschenen weißen Proleten. Es sind die Armen jeder Hautfarbe, die am meisten unter den Maßnahmen zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie zu leiden haben. Und sie haben 2016 mehrheitlich für den Brexit gestimmt. Im multikulturellen Wahlkreis Barking & Dagenham waren es 62,4 %. Auf unzähligen Websites machen sich Angehörige der sonst so politisch korrekten Eliten über ihre Redeweise, den sogenannten “Chavspeak”, lustig. “Fanx” sei etwa ein Ausdruck der Dankbarkeit, mit “Motah” sei ein Auto gemeint – “für gewöhnlich ein Ford Fiesta”, schreiben dort Leute, die vermutlich ganz andere Karossen ihr Eigen nennen.Nun muss der Dagenham Sunday Market schließen, der 34 Jahre lang Tausende von Einkäufern anzog, die dort nicht nur Teile ihres Grundbedarfs decken, sondern auch pakistanische Süßigkeiten, gefälschte LVMH-Handtaschen und andere interessante Dinge erstehen konnten. “Wir werden die Frotzeleien, die East-End-Atmosphäre und nicht zuletzt die sensationellen Schnäppchen vermissen”, teilt der Betreiber Charfleet Markets mit. Der Markt habe länger überlebt als viele andere seiner Art. Doch um die Vorgaben zur sozialen Distanzierung einzuhalten, etwa breite Gassen, um einen Mindestabstand von zwei Metern einhalten zu können, müsste der Markt um 40 % schrumpfen. Für zahllose Händler, ja ganze Standreihen wäre dann am aktuellen Standort kein Platz mehr. Ein kleinerer Markt wäre unattraktiv und nicht überlebensfähig, sagt der Betreiber. Ein alternativer Ort, auf dem man sich weiter ausbreiten könnte, sei nicht auf Dauer anzumieten gewesen.Die Ironie der Geschichte ist, dass die Regierung die Erlaubnis, wieder Freiluftmärkte abzuhalten, als Schritt auf dem Weg zum Ausstieg aus dem Lockdown verkaufte. Die Entscheidung von Charfleet Markets zeigt, dass wie so oft das Kleingedruckte eine große Rolle spielt. Ursprünglich wollte der Marktbetreiber den Betrieb erst im September wieder aufnehmen. Inzwischen geht er davon aus, dass die Vorgaben zur sozialen Distanzierung auch dann noch gelten werden. Für viele Händler dürfte das existenzbedrohend sein. Sie können nicht von zuhause aus arbeiten wie die Bewohner der Londoner Nobelviertel, die bislang voll hinter den Ausgangsbeschränkungen stehen.Am anderen Ende der Stadt liegt Hounslow, ein Viertel, von dessen Existenz viele Angehörige der Oberschicht erst durch Kriminalromane wie “Homegrown Hero” von Khurrum Rahman erfahren haben dürften. Dass es in seinen Büchern viel um islamistischen Terror und Rassismus geht, liefert einen Hinweis auf die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung. Hounslow High Street gilt als Hochburg der “Chaveratti”. Doch als “White British” bezeichneten sich der Statistik zufolge nur noch 56 %, in Barking & Dagenham waren es 81 %.In Hounslow stimmte man vor vier Jahren knapp für “Remain”, was an der enormen Abhängigkeit vom nahegelegenen Heathrow Airport liegen mag. Denn hier leben viele Mitarbeiter der Flughafengastronomie, der Gepäckabfertigung, Reinigungskräfte und Uber-Fahrer. Die Lokalverwaltung hob gerade warnend hervor, dass ein Drittel der 100 000 Haushalte des Stadtbezirks von Stellenstreichungen am Flughafen getroffen werden könnte. Die lokale Wirtschaft könnte um 40 % einbrechen. In der Umgebung von Heathrow beschäftigt die Luftfahrt einer Studie der Gewerkschaft Unite zufolge 40 % aller Arbeitnehmer. Auch hier sind in den schlecht bezahlten Jobs, die wenig oder keine Aufstiegsmöglichkeiten bieten, Angehörige von Minderheiten überproportional stark vertreten. Da könnte man ansetzen. Doch wer einen schönen Garten hat, freut sich eher darüber, dass der Fluglärm noch nicht wieder die gewohnte Stärke erreicht hat. Wen interessiert da schon das Elend der anderen?