"Ich hätte es mit einer Zinssenkung nicht eilig"
Im Interview: Klaas Knot
"Auf den Optimismus folgt in der Regel ein Kater"
Das EZB-Ratsmitglied über den Zinskurs der Notenbank, die Erwartungen an den Märkten, die Risiken für den Inflationsausblick und die Geldpolitik der Zukunft
Hinter der Europäischen Zentralbank (EZB) liegt ein ereignisreiches wie schwieriges Jahr – und vor ihr ein nicht minder spannendes Jahr. Marktteilnehmer und Ökonomen spekulieren munter über den Zeitpunkt der ersten Zinssenkung. Im Interview ordnet EZB-Ratsmitglied Klaas Knot die Lage ein – und wirft einen Blick auf 2024.
Das Interview führte Mark Schrörs.
Herr Knot, lassen Sie uns gleich in medias res gehen und mit der entscheidenden Frage beginnen: Wer gewinnt 2024 die Europa-Fußballmeisterschaft?
Das ist aber gleich eine knifflige Frage! Ich befürchte, es werden weder Deutschland noch die Niederlande sein. Für mich ist Frankreich der große Favorit. Wir haben in der Qualifikationsgruppe zweimal gegen sie verloren und haben sie jetzt in der Gruppenphase als Gegner. Wir haben also ein bisschen Pech bei Auslosungen.
Und um die Brücke zur Geldpolitik zu schlagen: Die Euro 2024 beginnt am 14. Juni – eine Woche nach der EZB-Sitzung im Juni. Wird die EZB bis dahin die Zinsen gesenkt haben?
Ich werde ihnen da keine konkrete Antwort geben. Denn es ist noch viel zu früh, um so konkret zu sein. Ja, die jüngsten Inflationszahlen waren eine sehr willkommene Bestätigung dafür, dass wir auf dem richtigen Weg sind, die Inflation wieder auf das Zielniveau von 2% zu senken. Aber wir müssen die Lohnentwicklung abwarten, bevor wir sagen können, dass die Inflation auch dauerhaft die Wende geschafft hat. Unsere Prognosen gehen von einer deutlichen Verlangsamung des Lohnwachstums und der Gewinnspannen im Jahr 2024 aus.
Was aber unsicher ist?
Für 40% bis 50% aller europäischen Arbeitnehmer wird es Anfang 2024 neue Lohnabschlüsse geben. Das werden ganz wichtige Informationen für uns sein. Diese Informationen werden nicht vor etwa Mitte des Jahres in Gänze verfügbar sein. Und warum sollten wir, als evidenzbasierte Entscheidungsträger, solch wichtige Informationen vorwegnehmen?
Aus heutiger Sicht würden Sie es also als eher unwahrscheinlich ansehen, dass die Leitzinsen bereits im ersten Halbjahr 2024 sinken?
Auf Basis der heutigen Informationen halte ich das für eher unwahrscheinlich. Aber wir sind datenabhängig und nicht zeitabhängig. Wir müssen die Inflation bis 2025 auf 2% bringen – das ist von entscheidender Bedeutung. Und dazu muss noch einiges gut laufen. Wir müssen also wachsam bleiben.
Aber der Zinserhöhungszyklus ist definitiv vorbei?
Ich würde dem Wort „definitiv“ nicht zustimmen. Auf Basis der aktuellen Informationen sehe ich keinen dringenden Bedarf für weitere Zinserhöhungen. Wir können mit der derzeitigen geldpolitischen Ausrichtung zufrieden sein. Aber die Lohndaten können in beide Richtungen gehen und dann müssen wir gegebenenfalls entsprechend reagieren. Ich würde daher weitere Zinserhöhungen noch nicht kategorisch ausschließen, auch wenn sie recht unwahrscheinlich sind.
Vor der Veröffentlichung der November-Inflation hatten einige Notenbanker weitere Zinserhöhungen nicht ausgeschlossen. Jetzt wird fast nur noch über Zinssenkungen diskutiert. Waren die Daten ein Game-Changer?
Ich bin immer vorsichtig mit solchen Begriffen. Aber die November-Inflationsdaten waren kurzfristig gute Nachrichten. Und zwar nicht nur wegen der Gesamtinflation. Viel wichtiger war der Rückgang der Kerninflation von 4,2% auf 3,6%. Auch dieser Rückgang war stärker als erwartet. Aber wir haben eine mittelfristige Orientierung. Und ich wiederhole mich gerne: Es fehlt noch eine wichtige Information. Bei den Löhnen gibt es noch keine Trendwende. Und wir werden einige gute Nachrichten von der Lohnfront sehen müssen, bevor wir sagen können, dass die Inflation auch dauerhaft die Wende geschafft hat.
Die Märkte wetten aber weiter auf frühe und aggressive Zinssenkungen der EZB im Jahr 2024 – schon ab März.
Es sollte anerkannt werden, dass der Disinflationspfad, den wir in unseren neuen Projektionen unterstellen, auf finanziellen Bedingungen basiert, die eine deutlich geringere politische Lockerung beinhalten, als die aktuellen Marktpreise vermuten lassen. Wenn also die aktuellen Marktpreise weiterhin von diesem Pfad abweichen, stellt dies an und für sich ein Aufwärtsrisiko für unseren Inflationsausblick vom Dezember dar. Das ist die erste wichtige Beobachtung. Und zur Marktdynamik selbst: Die Märkte neigen zum Jahresende immer zu Optimismus, auf den häufig ein Kater im Januar folgt.
Der Optimismus bezüglich rascher Zinssenkungen ist also übertrieben?
Der Jahresend-Optimismus beeinträchtigt womöglich die Bewertung der eingehenden Daten. Wir haben viele Simulationen des optimalen geldpolitischen Kurses auf der Grundlage unserer aktuellen Einschätzung der Inflations- und Konjunkturaussichten durchgeführt. Und ich kann Ihnen versichern, dass der optimale geldpolitische Pfad, der sich aus diesen Simulationen ergibt, viel näher an den Leitzinsen liegt, die zum Stichtag unserer Projektionen eingepreist waren, als an dem Leitzinspfad, der heute auf den Finanzmärkten eingepreist ist – nach den November-Inflationsdaten.
Sie haben die Markterwartungen und die Folgen für die Finanzkonditionen als Aufwärtsrisiko für die Inflation bezeichnet. Wie schätzen Sie die Risikobalance insgesamt ein?
Ich würde sagen, dass die Auf- und Abwärtsrisiken für die Inflation in der kurzen Frist in etwa ausgeglichen sind. Mittelfristig, für die Jahre 2025 und 2026, sehe ich die Risiken leicht aufwärts gerichtet.
Wie glücklich sind Sie denn mit den neuen Projektionen, die für 2025 und 2026 2,1% und 1,9% Inflation vorhersagen. In den vergangenen Jahren lagen die Projektionen oft stark daneben.
Die Projektionen für 2023 sind bemerkenswert akkurat gewesen. Hinzu kommt, dass die Inflation wirklich zurückgeht. Diese beiden Fakten zusammen zeigen, dass wir die Inflation wieder besser in den Griff bekommen. Ich bin zuversichtlich, dass die Rückkehr zu 2% Inflation im Jahr 2025 eine glaubwürdige Perspektive ist.
Und Sie machen sich keine allzu großen Sorgen um die Euro-Wirtschaft?
Das vierte Quartal dürfte erneut schwach sein und das erste Quartal 2024 auch nicht berauschend. Aber mittelfristig gibt es Faktoren, die für Zuversicht sorgen. Die Reallöhne werden 2024 zulegen und die Kaufkraft stärken. Und der Arbeitsmarkt ist weiter stark. Die Kombination dieser Faktoren bildet eine glaubwürdige Grundlage für einen Aufschwung im Jahr 2024. Die Wirtschaft hat sich zudem als sehr widerstandsfähig erwiesen. Der Schaden, den wir unserer Wirtschaft durch höhere Zinssätze zufügen, ist im Vergleich zu früheren Episoden der Disinflation äußerst begrenzt. Das ist ein weiterer Grund, warum ich es mit einer Zinssenkung nicht eilig hätte. Eine eventuelle Rücknahme der geldpolitischen Restriktion kann und muss schrittweise und geduldig erfolgen.
Und Sie befürchten auch keine Kreditklemme?
Der Rückgang der Kreditvergabe ist ein Merkmal unserer Politik, kein Fehler. Natürlich müssen wir dies genau beobachten. Aber bisher sehen wir keine Gefahr von finanziellen Verstärkungseffekten, die zu einer echten Kreditklemme führen könnten. Die Banken in der Eurozone haben sich als sehr widerstandsfähig erwiesen und befinden sich in einer guten Position. Sie sind gut kapitalisiert und profitabel.
Einige sehen das anders und argumentieren, die EZB habe bereits übertrieben mit der Straffung.
Angesichts der Inflationsaussichten und der Risikobilanz sehe ich das anders. Das heißt nicht, dass wir die Möglichkeit einer übermäßigen Straffung zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft ausblenden sollten. Wir dürfen aber auch unsere Wachsamkeit nicht vernachlässigen, wie unsere Präsidentin Christine Lagarde gesagt hat. Ich stimme ihr voll und ganz zu, dass eine verfrühte Siegeserklärung immer noch die vorherrschende Sorge ist.
In den USA hat Fed-Chef Powell unlängst vor dem Risiko gewarnt, zu lange an hohen Zinsen festzuhalten. Für den Euroraum würden Sie aber sagen, es ist besser, auf Nummer sicher zu gehen?
Ich werde mir alle sechs Wochen die Daten ansehen und die beiden gegensätzlichen Risiken abwägen: das Risiko einer verfrühten Siegeserklärung über die Inflation gegen das Risiko einer übermäßigen Straffung. Was den Vergleich mit den USA angeht, muss man auch sehen, dass es große Unterschiede gibt.
Was meinen Sie genau?
Das strukturelle Merkmal der gestaffelten Lohnabschlüsse, das wir in Europa haben und das es in den USA kaum gibt, impliziert, dass die Lohnentwicklung einen längeren Schatten auf die Inflationsentwicklung im Euroraum wirft. Das bedeutet, dass wir wahrscheinlich mehr Wert auf die Dauer der Restriktion legen müssen als auf der anderen Seite des Atlantiks. In den USA gehen die Löhne bereits zurück und die Produktivität zieht an – was der Fed auch hilft. In der Eurozone liegt das Wachstum der Lohnstückkosten dagegen immer noch auf einem Rekordhoch.
Die Spekulationen auf rasche Zinssenkungen wurden auch befeuert durch die Entscheidung, die Reinvestitionen beim Corona-Notfallanleihekaufprogramm PEPP ab Mitte 2024 schrittweise auslaufen zu lassen – früher als bislang geplant. Das gilt vielen als restriktiver Impuls, für den es vielleicht eine Art Kompensation braucht.
Das ist eine falsche Vorstellung. Beim Tapering von PEPP geht es mehr um geldpolitische Hygiene als um den geldpolitischen Kurs. Die Pandemie ist offiziell für beendet erklärt worden und es war nicht mehr verhältnismäßig, weiterhin vollständig zu reinvestieren. Wir wollten die Reinvestitionen deshalb schrittweise und vorhersehbar zurücknehmen. Aber die Auswirkungen auf die Zinsen sind minimal.
Einige Kritiker sagen, das PEPP-Tapering komme zur Unzeit, weil 2024 wieder die EU-Fiskalregeln greifen sollen – was einige Länder vor Probleme stellen könnte.
Ich würde sagen, ganz im Gegenteil. Die Einhaltung gemeinsam vereinbarter finanzpolitischer Regeln stärkt die Glaubwürdigkeit der öffentlichen Finanzen und trägt so dazu bei, noch bestehende Zweifel an der Tragfähigkeit der Schulden zu beseitigen. Wir haben nur dann eine Rolle zu spielen, wenn die Märkte nicht funktionieren, was zu einem ungerechtfertigten Anstieg der Anleiherenditen führt.
Steigt mit dem Ende der PEPP-Reinvestitionen die Wahrscheinlichkeit, dass das 2022 aufgelegte Transmission Protection Instrument (TPI) aktiviert werden muss?
Die Märkte sind völlig ruhig und geordnet. Die Spreads sind nach unserer PEPP-Ankündigung zurückgegangen. Es besteht derzeit keine Gefahr einer Fragmentierung.
Aber die Erfahrung lehrt, dass sich das schnell ändern kann. Und dann?
Ich setze darauf, dass sich unsere Finanzminister auf neue fiskalische Regeln einigen werden, die die Glaubwürdigkeit der Finanzpolitik stärken. Und das wird dazu beitragen, dass die Anleihemärkte relativ ruhig und geordnet bleiben.
Die Zuversicht auf eine Einigung teilen nicht alle – zumindest nicht kurzfristig.
Es wird diese Woche ein letzter Versuch unternommen. Ich bin zuversichtlich, dass das gelingt. Um eine stabilitätsorientierte Geldpolitik zu betreiben, sind glaubwürdige finanzpolitische Regeln unabdingbar.
Hat die Fiskalpolitik im Euroraum aus Ihrer Sicht eigentlich genug getan, um die Geldpolitik im aktuellen Kampf gegen die zu hohe Inflation zu unterstützen?
Bislang hat die Finanzpolitik der Geldpolitik nicht wirklich geholfen. Aber wenn man sich unsere aktuellen Projektionen ansieht, ist es uns gelungen, eine glaubwürdige Aussicht auf eine mittelfristige Rückkehr zur Preisstabilität zu schaffen, obwohl die Finanzpolitik andere Ziele verfolgt. Dennoch wäre ein ausreichendes Maß an Haushaltskonsolidierung im Jahr 2024 sehr zu begrüßen. Die Politiker sollten dies auch aus Eigeninteresse tun. Ihnen läuft die Zeit davon, ihre Primärsalden an die strukturell höheren Zinskosten anzupassen, die sie in Zukunft zu tragen haben werden. Bislang existiert die Haushaltskonsolidierung vor allem auf dem Papier. Es bleibt abzuwarten, ob sie tatsächlich umgesetzt wird.
Was halten Sie davon, den Mindestreservesatz von 1% zu erhöhen, den Banken für Kundeneinlagen bei der EZB halten müssen. Ließe sich so die Überschussliquidität senken?
Unser Auftrag ist die Preisstabilität und nicht die Steigerung unserer Profitabilität oder der Neid auf die Profitabilität des Bankensektors. Wir sollten diese Frage daher im Rahmen unserer Überprüfung des operativen Rahmens diskutieren. Eine begrenzte Erhöhung könnte sinnvoll sein. Wir sollten allerdings auch das Liquiditätsrisikomanagement im Bankensektor nicht durch übereilte Änderungen der Mindestreserveanforderungen destabilisieren.
Wie sollten die wesentlichen Elemente des künftigen Rahmenwerks aussehen?
Das System sollte definitiv nachfragegetrieben sein. Der EU-Vertrag sieht vor, dass wir weiter nach den Grundsätzen der Marktwirtschaft handeln und folglich unseren Einfluss auf die Märkte so weit wie möglich reduzieren. Ich habe noch nicht entschieden, ob dies eine nachfragegetriebene Untergrenze oder ein enger Korridor sein soll. Ich denke aber, dass wir in der Lage sein sollten, flexibel auf den Liquiditätsbedarf zu reagieren. Ein Mix von Instrumenten ist ideal. Ich glaube aber, dass unser wichtigstes Instrument die Refinanzierungsgeschäfte sein sollten, weil sie flexibler sind.
Braucht es dauerhaft ein strukturelles Anleiheportfolio?
Ein strukturelles Anleiheportfolio ist eine der Möglichkeiten, mit denen wir Liquidität bereitstellen könnten. Ich habe mich noch nicht wirklich entschieden, wie viel Raum ich für dieses Instrument sehe. Aber wenn es ein solches Portfolio sein sollte, dann sollte es so klein wie möglich sein. Auch im Hinblick auf Artikel 123 des EU-Vertrags, dem Verbot der monetären Staatsfinanzierung. Ich interpretiere dies so, dass wir den Regierungen keine dauerhaften Finanzierungsgarantien geben sollten. Das schützt uns auch vor fiskalischer Dominanz und erlaubt uns, weiterhin unabhängig zu entscheiden.
Sie sind auch Chef des globalen Finanzstabilitätsrats FSB. Wo sehen Sie aktuell die größten Gefahren im globalen Finanzsystem?
Die Kosten für den Schuldendienst steigen durch die rasche Zinswende natürlich deutlich. Und es besteht dann das Risiko, dass diese Kosten nicht von allen Schuldnern getragen werden können. Deshalb erwarte ich, dass Insolvenzen und Unternehmenskonkurse ansteigen werden – auch bei kleinen und mittleren Unternehmen und Privathaushalten. Auch die Kreditausfälle, die NPLs, werden sicher nicht auf dem sehr niedrigen Niveau bleiben, auf dem sie sich seit langem befinden. Aber wenn dies ein geordneter und vorhersehbarer Prozess ist, ohne größere Schocks und abrupte Anpassungen, dann denke ich, dass die Wirtschaft und das Finanzsystem das relativ gut verkraften können.
Braucht es bei den Banken eine striktere Regulierung?
Wir sollten niemals selbstzufrieden sein. Das Wichtigste ist die vollständige Umsetzung von Basel III. Die US-Banken, die in Schwierigkeiten geraten sind, wurden von Basel III nicht erfasst. Aufgrund ihres Scheiterns sollten wir prüfen, ob wir daraus Lehren für unseren Umgang mit dem Zinsrisiko im Anlagebuch und dem Liquiditätsrisiko im Bankensektor ziehen können. Die Übernahme der Credit Suisse hat auch eine Reihe von Fragen über die grenzüberschreitende Anwendbarkeit von Bail-in-Maßnahmen aufgeworfen. Außerhalb des Bankensektors taucht von Zeit zu Zeit immer noch das Problem der versteckten Hebelwirkung auf. Im Rahmen des Arbeitsprogramms des FSB für Finanzinstitute außerhalb des Bankensektors im Jahr 2024 wollen wir eine strukturellere Bewertung vornehmen, um festzustellen, wo diese Schwachstellen liegen und was wir dagegen tun können.
English version of the interview: “I would be in no hurry to cut interest rates”