NOTIERT IN MAILAND

Im Land der Alten stehen fast alle Räder still

An vielen zentralen Plätzen Italiens sieht es derzeit wie nach dem Abwurf einer Neutronenbombe aus. Gähnende Leere am Piazza de Ferrari in Genua und am Piazza del Duomo in Mailand. Selbst an der Spanischen Treppe in Rom ist kaum ein Mensch zu sehen....

Im Land der Alten stehen fast alle Räder still

An vielen zentralen Plätzen Italiens sieht es derzeit wie nach dem Abwurf einer Neutronenbombe aus. Gähnende Leere am Piazza de Ferrari in Genua und am Piazza del Duomo in Mailand. Selbst an der Spanischen Treppe in Rom ist kaum ein Mensch zu sehen. Ganz zu schweigen von der Piazza Vecchia in der Oberstadt der am schlimmsten von der Coronavirus-Pandemie betroffenen Stadt Bergamo.Viel dramatischer als in den Großstädten ist die Lage häufig in den kleinen Dörfern und Städten der Lombardei, der Emilia-Romagna oder Venetiens. Dort leben viele alte Menschen, die sich sonst gern in Cafés, auf der Piazza oder in einem der Altenzentren treffen. Sie trifft die Pandemie besonders. Bis zu zwölf Seiten Todesanzeigen pro Tag veröffentlicht derzeit das “Eco di Bergamo”. Die meisten Verstorbenen wurden kurz vor ihrem Tod zu Hause abgeholt, starben allein in einem Krankenhaus, werden irgendwo beerdigt. Die Angehörigen erhalten eine Todesnachricht und können die wenigen Habseligkeiten abholen.Unter den Opfern finden sich alle Berufssparten, vom Pfarrer über den Rechtsanwalt bis hin zum Maurer oder Bäcker. Manche von ihnen waren trotz hohen Alters noch berufstätig, als sie aus dem Leben gerissen wurden. So wie der 86-jährige Unternehmer Umberto Falchetti, Chef des Autozulieferers MTA aus Codogna, der mit einer Sondergenehmigung selbst dann noch produzieren durfte, als die Region als “zona rossa” abgeriegelt war. MTA hat 600 Mitarbeiter in Italien und weitere 950 im Ausland und beliefert neben Fiat Chrysler auch BMW, Renault und Peugeot Citroën. Falchetti starb zwei Tage nach seiner Einlieferung im Krankenhaus von Cremona. Seine Beschäftigten konnten nur aus der Ferne mit einem Gruß Abschied nehmen, als der Leichenwagen an der Fabrik vorbeifuhr.Im Norden Italiens haben inzwischen viele Unternehmen aufgehört zu produzieren. Nach Schätzungen von Vincenzo Boccia, Chef des Industriellenverbandes Confindustria, stehen 70 % der Produktionskapazität still.Bisher sind mehr als 6 000 Menschen in Italien gestorben, vor allem Alte. Die Demografie macht Italien anfällig: Nirgendwo anders leben so viele alte Menschen. Kaum irgendwo sonst sind sie aber wohl so integriert in das gesellschaftliche und familiäre Umfeld, vor allem in kleineren Gemeinden. “Nonno” und “Nonna” sind häufig eng verbunden mit der Familie. Im Land der “Mammoni” (Muttersöhnchen) leben sie sogar oft im Familienverband – nicht immer reibungslos, wie viele Schwiegertöchter wissen. Die enge Verbindung erweist sich nun als besonders gefährlich, weil sie die Ansteckungsgefahr erhöht.Und viele im Norden arbeitende Süditaliener sind nun zu den Eltern im Süden geflüchtet. Die Pandemie droht sich nun in den bisher weitgehend verschont gebliebenen Mezzogiorno auszubreiten, dessen Gesundheitssystem darauf noch weniger vorbereitet ist als das des Nordens. Regionen wie Sizilien oder die Basilicata versuchen sich deshalb abzuriegeln. Als noch Züge fuhren, kamen teilweise 15 % der Reisenden aus dem Norden mit Fieber an.Peppe Provenzano, Minister für den Süden und den sozialen Zusammenhalt, fürchtet das Schlimmste. “Wäre die Epidemie im Süden ausgebrochen, hätten wir ein Massengrab.” Die Regierung will auch den Schwarzarbeitern unter die Arme greifen.Der Zustand des Gesundheitswesens ist vielfach genauso katastrophal wie jener der Schulen und der Infrastruktur. Es rächt sich, dass die Regierungen die relativ guten Zeiten nicht genutzt haben, um die Schulden zu reduzieren und statt konsumtive Ausgaben zu tätigen die Infrastruktur zu erneuern, die Bürokratie abzubauen und strukturelle Reformen durchzuführen. Jetzt soll Europa helfen – möglichst mit unbegrenzten Mitteln.Die Krise hat auch “gute Seiten”. Im Gesundheitsbereich kommen Hilfen aus Deutschland. Vor allem aber kommt Material und Personal aus China, Russland und Kuba. Solidarität von da, wo man es nicht vermutet hätte. Und die Luft in der Poebene, der Region mit der stärksten Luftverschmutzung in Europa, war schon seit Jahrzehnten nicht mehr so gut wie jetzt. Das Wasser in den Kanälen von Venedig ist plötzlich glasklar. Sogar Delfine wurden gesichtet.