IM INTERVIEW: OTMAR ISSING

"Im Moment wirkt der Euro eher als Spaltpilz"

Der frühere EZB-Chefvolkswirt spricht anlässlich seines 80. Geburtstags über die heikle Lage der Währungsunion, die Rolle der Notenbank und die Sorge ums Geld

"Im Moment wirkt der Euro eher als Spaltpilz"

– Herr Professor Issing, als erster Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank (EZB) haben Sie den Euro mit aus der Taufe gehoben. Zugleich standen Sie dem Euro-Projekt aber durchaus kritisch gegenüber – was Ihnen auch Vorwürfe eingebracht hat, “kein wirklicher Europäer” zu sein. Fühlen Sie sich heute in Ihrer Skepsis bestätigt angesichts des Bildes, das die Eurozone und Europa abgeben?Tatsächlich ist mir wegen meiner Hinweise auf die Probleme des Euro auch im EZB-Rat von Kollegen vorgehalten worden, kein wirklicher Europäer zu sein. Das hat mich damals geärgert und ärgert mich bis heute. Wenn jemand wie ich nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Ruinen seiner Heimatstadt zur Schule gegangen ist, kann er nur überzeugter Europäer sein! Für mich war aber immer entscheidend, die Schwierigkeiten nicht zu ignorieren, sondern alles zu tun, um diese zu überwinden. Allein mit Euphorie und Europa-Rufen ist es nicht getan. Deswegen habe ich auch vor meiner Ernennung bei der EZB stets gesagt: Der Euro ist ein gewaltiges Experiment, und ich werde alles tun, um meinen Beitrag zu leisten, dass er ein Erfolg wird – ein Selbstläufer aber ist das nicht.- Heute muss man den Eindruck haben, dass der Euro mehr Spaltung als Einigung erzeugt. Ist das “Experiment” also gescheitert?Es war von Anfang an klar, dass der Euroraum kein optimaler Währungsraum war. Viele Länder hatten enormen Reformbedarf. Trotzdem war ich überzeugt, dass der Euro eine Chance hat. Sonst wäre ich nie zur EZB gegangen. Leider wurde diese Chance vom ersten Tag des Euro an unterminiert – durch das Verhalten der Regierungen sowie jenes der Gewerkschaften und Unternehmen in vielen Ländern, mit überzogenen Lohnerhöhungen und Preissteigerungen. Ich war stets überzeugt, dass es eine Krise braucht, damit es zu den nötigen Reformen kommt. Ein Stück weit hat das auch funktioniert: Die Euro-Schuldenkrise hat einiges aufgebrochen.- Der Euro hat sich aber nicht zur Initialzündung für die politische Union erwiesen, wie viele gehofft hatten. Im Gegenteil: Derzeit sind die politischen Fliehkräfte enorm.Der Euro ist sicher nicht zum Schrittmacher zur politischen Union geworden. Ich habe von dieser Idee aber auch nie viel gehalten. Es tut einer Währung und der Geldpolitik nicht gut, wenn man sie überfrachtet und überhöht. Eine stabile Währung kann ein politisch stabilisierender Faktor sein. Man sollte aber nicht überzogene Erwartungen darauf projizieren. Im Moment wirkt der Euro eher als Spaltpilz – das kann man leider nicht leugnen.- Die Euro-Krise hat also nicht nur eine heilende Wirkung gehabt in Hinblick auf nötige Reformen.Ich denke, man muss da unterscheiden. Irland ist sicher ein Modellfall: Die Regierung hat ihren Bürgern klar gesagt, dass das Land über seine Verhältnisse gelebt hat, dass es daran selbst schuld ist und dass der Lebensstandard entsprechend angepasst werden muss. Das hat die Bevölkerung verstanden und akzeptiert. In Griechenland dagegen gibt es bis heute die abstrusesten Argumente, wer an der furchtbaren Lage schuld ist – allen voran Deutschland und die ausländischen Gläubiger. Letztlich hat sich aber überall gezeigt, dass die Währungsunion einen tiefen Eingriff in die Gesellschaft, die Wirtschaft und auch die Demokratie eines Landes darstellt.- Warum überrascht das so viele?Ich habe es einmal in kleiner Runde so formuliert: Es gab wenige Politiker, die verstanden haben, was ihre Unterschrift unter den Maastricht-Vertrag bedeutet. Der Vertrag enthält zum Beispiel kein Wort über den Arbeitsmarkt oder Löhne. Aber natürlich ist es so, dass ein Land in dem Moment, in dem es dem Euro beitritt, nicht mehr über das Instrument der Abwertung verfügt und damit auch in der Lohnpolitik streng limitiert ist. Viele haben gedacht: Wir bekommen den stabilen Euro, aber können sonst weitermachen wie bisher.- Aber die Politik hat das doch auch bewusst camoufliert, um das große politische Ziel der Einheit Europas nicht zu gefährden.Sicher haben politische Überlegungen gegenüber ökonomischen Überlegungen eine Vorrangstellung gehabt. Aber das war und ist kein Freibrief für schlechte Wirtschaftspolitik. Wenn etwa in Portugal binnen acht Jahren die Lohnstückkosten gegenüber Deutschland um 30 % steigen – was will man dann erwarten? Ökonomie ist kein Naturgesetz, aber es gibt Gesetzmäßigkeiten, die sich nicht ignorieren lassen.- Aber auch die EZB trägt Schuld, weil sie nicht lauter gewarnt hat.Wir haben die Probleme etwa bei der Lohnentwicklung von Anfang an klar benannt – gegenüber der Politik, in unseren Veröffentlichungen, vor allem im Monatsbericht. Wir konnten aber nicht in die Öffentlichkeit gehen und sagen, die Verhältnisse beispielsweise in Spanien führen geradewegs in die Krise. Ich denke bis heute, dass sich eine Notenbank in einem derart komplexen Gebilde wie dem Euroraum nicht als “master of everything”, als Herr über alles, aufspielen sollte.- Und heute: Hat der Euro immer noch eine “Chance” oder ist er doch auf dem Weg ins Aus?Ein Ende des Euro halte ich für so gut wie ausgeschlossen. Können Sie sich vorstellen, dass das neue Gebäude der EZB eines Tages geräumt wird und jemand anderes einzieht? Aber im Ernst, weil das natürlich nicht das Argument sein kann: Es gibt eben auch Vorteile einer einheitlichen Währung, und nach der Krise war vieles auf gutem Weg. Irland, Portugal und Spanien haben gezeigt, dass man mit großen Anstrengungen Probleme überwinden kann.- Aber dieser Prozess ist gestoppt. Die Gegner dieser Politik haben vielerorts wieder Oberwasser.Es gibt einen geradezu irrationalen Aufstand gegen die Bedingungen einer Union des stabilen Geldes. Schauen Sie sich etwa italienische Medien an: Da wird an der Legende gestrickt, Deutschland habe Italien in den Euro gelockt, ja fast schon gezwungen. Absurder geht es doch nicht! Die deutsche Politik hat sich da lange zurückgehalten, statt die harte Wahrheit immer wieder zu predigen: Mit der Unterschrift unter den Maastricht-Vertrag hat jede Regierung ihr Land verpflichtet, die Fehler zu vermeiden, die mit einer stabilen Währung nicht vereinbar sind.- In Wahlen aber wird trotzdem das Blaue vom Himmel versprochen und am Ende wird die Schuld auf die EU oder die EZB geschoben.Daran krankt das gesamte politische System. Die Regierungen in Italien, Griechenland oder Spanien haben ihren Bürgern verheißen: Jetzt bekommt ihr eine Währung, die so stabil ist wie die D-Mark. Da haben alle geklatscht. Aber über die Konsequenzen in wichtigen Bereichen der Politik hat man sie im Unklaren gelassen. Im Grunde hat sich daran in einigen Ländern nichts geändert.- Sie haben gesagt, die EZB solle sich nicht zum “Herr über alles” aufschwingen. Aber ist sie nicht längst in diese Rolle geschlüpft? Die aktuelle Diskussion über “Helikoptergeld”, also die Idee, dass die EZB Bürgern Geld schenkt, ist doch jüngster Ausdruck dessen.Die Diskussion über Helikoptergeld halte ich für geradezu aberwitzig. Ich kann mir Situationen vorstellen, in denen man über so etwas nachdenken kann, etwa jene in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg: Da hat man de facto Helikoptergeld eingesetzt, auch wenn das damals anders hieß. Aber das hat doch mit der Situation heute nichts zu tun. Keine Frage, es gibt Risiken – die Lage in China, der Terrorismus und vieles mehr. Aber Fakt ist, das Wachstum im Euroraum liegt über Potenzial. Natürlich ist die Arbeitslosigkeit vielerorts noch hoch. Aber um Himmels willen, das ist doch keine Notsituation, die danach schreit, dass man alle Regeln der Geldpolitik außer Kraft setzt. Wenn man in einer solchen Situation Helikoptergeld einsetzen wollte, hätte die Notenbank ein für alle Mal abgedankt.- Was meinen Sie genau?Wenn eine Notenbank ohne Not beginnt, Geld zu verschenken – wie will sie dann irgendwann wieder die Kontrolle über die Geldschöpfung und Geldversorgung zurückgewinnen? Ich bin der festen Überzeugung, Notenbanker sollten sich an der Debatte gar nicht erst beteiligen. Wenn sie sich in diese Diskussion begeben, sind sie bereits auf einer abschüssigen Bahn. Letztlich räumen sie dann öffentlich ein, mit ihrem normalen Latein am Ende zu sein.- Vor allem in Deutschland ist die Verunsicherung über die EZB-Politik ohnehin groß. Negativzinsen, Anleihenkäufe – das verbreitete Gefühl ist jenes immer neuer geldpolitischer Experimente, die in einer fragilen Eurozone womöglich doppelt gefährlich sind.Für mich ist die Wurzel allen Übels eine falsche Diagnose. Das fing in den USA an und hat nun auch den Euroraum erreicht: Ich halte die Diskussion über die Gefahr einer Deflation für fehlgeleitet. Eine Deflation wie in den 1930ern ist ohne Zweifel der schlimmste makroökonomische Zustand, den man sich vorstellen kann. Es gibt aber viele ernstzunehmende Studien, die belegen, dass eine solche Abwärtsspirale die absolute Ausnahme ist. In anderen Phasen sinkender Preise ist es nicht nur nicht zu einer solchen Spirale gekommen – es ließen sich auch keine negativen Auswirkungen auf Wachstum und Beschäftigung nachweisen.- Den Mahnern gilt Japan stets als warnendes Beispiel.Aber sehen Sie sich Japan an: Das ist ein Land, in dem die Inflationsrate seit 20 Jahren um und teilweise sogar unter 0 % liegt, ohne dass es zu einer solchen Abwärtsspirale gekommen ist. Kein Japaner schiebt den Kauf eines Kühlschranks oder eines Autos auf, weil es nächstes Jahr vielleicht minimal billiger sein könnte. In Deutschland sind die Preise in den 1930er Jahren um 35 % in zwei Jahren gesunken. Das ist etwas anderes. Aber wo ist das heute der Fall? Die Gefahr einer gefährlichen Deflationsspirale sehe ich derzeit nicht- Die EZB aber argumentiert, dass auch eine zu niedrige Inflation gefährlich ist – zumal es einen Vertrauensverlust geben könnte, wenn die EZB ihr Ziel von mittelfristig unter, aber nahe 2 % Inflation nicht erreicht. Zuletzt lag die Teuerungsrate bei – 0,2 %.Im aktuellen globalen Umfeld ist es offenbar nicht so einfach, die Inflation schnell wieder auf den Zielwert zu bringen. Aber was bitte ist daran so schlimm? Die EZB hat ihr Ziel explizit mittelfristig ausgerichtet, und dieser Zeitraum kann mal länger und mal kürzer sein.- Aber viele in der EZB sorgen sich um ihre Glaubwürdigkeit. Einige befürchten gar eine Vertrauenskrise für die Notenbanken wie in den 1970er Jahren – nur mit umgekehrten Vorzeichen: Damals habe ihnen niemand mehr zugetraut, die zu hohe Inflation unter Kontrolle zu bringen, und nun traue ihnen niemand mehr zu, für genug Inflation zu sorgen.Das ist eine berechtigte Sorge. Vertrauen ist die unentbehrliche Grundlage für die Geldpolitik. Wenn aber eine Notenbank permanent erklärt, eigentlich wolle sie 2 % Inflation und sie mache alles, um das schnell zu erreichen, und sie schafft das dann nicht, dann entsteht gerade irgendwann der Eindruck: Die Notenbank hat die Kontrolle verloren. Dann hat sie sich mit ihrer Kommunikation selbst in eine Falle hineinmanövriert. Mit einer anderen Kommunikation wäre das Problem in dieser Form gar nicht aufgetreten.- Was würden Sie vorschlagen?Die EZB sollte sagen, dass die Gefahr einer deflationären Spirale aktuell nicht ernsthaft besteht. Dass die Inflation zwar niedrig ist, dass das aber zum Großteil am niedrigen Ölpreis liegt, der sich positiv auswirkt. Für einen deutschen Haushalt macht das 100 bis 200 Euro mehr im Jahr aus. Letztlich ist das wie die Wirkung von Helikoptergeld, nur über den Ölpreis und die Terms of Trade. Und die EZB sollte klarmachen, dass sie langfristig weiter an ihrem 2-Prozent-Ziel festhält, und daran ihre Politik ausrichtet. Dann gäbe es vermutlich keine Debatte über die Glaubwürdigkeit der Notenbank.- Die EZB hat dagegen aber Mitte März nur drei Monate nach der Lockerung der Geldpolitik Anfang Dezember erneut nachgelegt.Damit schürt sie die Erwartung, dass sie nur hier und dort an einem Schräubchen drehen muss, damit die Inflation bald wieder auf 2 % steigt. Und wenn das nicht gelingt? Ich finde aber generell, dass die Zentralbanken derzeit zu sehr auf kurzfristige Entwicklungen und Daten fixiert sind. Dieses Hinterherhecheln ist alles andere als zielführend. Dabei denke ich vor allem an die US-Notenbank, die Fed. Sie ist sehr auf die monatlichen Daten zum Arbeitsmarkt fokussiert. Die sind aber sehr volatil und werden oft stark revidiert. Auf dieser Basis lässt sich keine Geldpolitik gestalten, die Vertrauen schafft.- Und wie kommt die EZB aus dieser Falle wieder raus?Fragen Sie mich etwas Leichteres. Zur Verteidigung der EZB muss man aber auch sagen: Die EZB ist in diesem komplexen Euroraum der Lückenbüßer für das Versagen der Politik. Das ging schon früh los und ist bis heute so geblieben. Auch vielen Politikern in Deutschland, die die EZB gerne kritisieren, ist am Ende das Hemd näher als der Rock: Wenn die EZB Risiken übernimmt, dann vermeidet sie, dass der Bundestag beispielsweise über neue Hilfspakete abstimmen muss. Die EZB hat sich nicht unbedingt in diese Rolle gedrängt, sie ist hineingezogen worden – aber sie hat auch wenig Widerstand geleistet. Das ist sicherlich eine schwierige Situation. Nur befürchte ich, dass der EZB die Vereinnahmung durch die Politik eines Tages schwer auf die Füße fallen wird.- Was meinen Sie konkret?Sich von dieser politischen Umklammerung freizumachen, wird alles andere als einfach. Man kann nicht von heute auf morgen sagen: So, das war es jetzt, Ihr Politiker, ab heute müsst Ihr wieder Eurer Verantwortung gerecht werden. Mit ihrer Politik drückt die EZB die Zinsen für Staatsanleihen auf ein Niveau, das in einer ganzen Reihe von Fällen mit der Lage der öffentlichen Finanzen nichts mehr zu tun hat. Nehmen Sie als Beispiel Italien. Das Land kann sich zu niedrigsten Zinsen immer weiter verschulden. Herr Renzi sollte sich um die Probleme in seinem Land kümmern, statt Deutschland wegen dessen Finanzpolitik zu attackieren.- Aber die EZB nährt die Illusion der unbegrenzten Geldschöpfung.Je länger die EZB auf dieser abschüssigen Bahn weitermacht, desto schwieriger wird es, überhaupt erst einmal zu stoppen – geschweige denn, wieder umzukehren.- Aber stoppen muss die EZB das.Ja, die Politik gewöhnt sich zusehends an eine Situation niedriger Zinsen, die mit der wirklichen Lage der Staatsverschuldung in keiner Beziehung mehr stehen. Vor dem Bundesverfassungsgericht ist jetzt in Bezug auf das Staatsanleihenkaufprogramm OMT auch wieder die Frage aufgetaucht, ob es zum Mandat der EZB gehört, die Mitgliedschaft eines jeden Landes im Euroraum zu sichern. Mit Sicherheit nicht! Die EZB hat aber mehr oder weniger diese Verpflichtung angenommen.- Zumal in Deutschland befürchten viele, die EZB mit Mario Draghi an der Spitze werde immer “mediterraner” – und entferne sich von der stabilitätsorientierten Geldpolitik deutscher Prägung.Wir leben heute sicher in einer anderen Zeit. Die Geldpolitik muss sich neuen Herausforderungen stellen. Die EZB-Geldpolitik ist aber zunehmend mit nationalen Interessen überladen und belastet worden. Das OMT-Programm, das bisher nur eine Ankündigung geblieben ist, ist da das negative Paradebeispiel: Die EZB verspricht, dafür zu sorgen, dass die Zinsen einzelner Länder nicht so stark steigen werden, wie es der Markt verlangt. Das ist ein politisches Versprechen, das die EZB nicht abgeben sollte. Wie kann man dann noch von Geldpolitik sprechen? Hier geht es um monetäre Staatsfinanzierung. Diese ist der EZB jedoch ausdrücklich untersagt.- So mancher Beobachter argumentiert, dass die Ära einer auf Preisstabilität fokussierten Zentralbank und der Trennung von Geld- und Fiskalpolitik zu Ende geht. Erleben wir vielleicht gerade eine Zeitenwende in der Geldpolitik?Zum Älterwerden gehört, dass man vieles schon einmal gesehen und gehört hat. Auch die Idee, die Geldpolitik in die Finanzpolitik zu integrieren und das von einer einheitlichen Behörde machen zu lassen, ist nicht neu. Das hat James Tobin schon vor langer Zeit vorgeschlagen. Wenn man aber die Notenbank zum Bestandteil der Regierung macht, kann man die Idee stabilen Geldes auf Dauer vergessen. Alan Meltzer hat drei dicke Bände über die Geschichte der Fed geschrieben, und eine wesentliche Erkenntnis war: Wenn politische Interessen dominieren, bleibt die Geldwertstabilität auf der Strecke. Deswegen hat man unabhängige Notenbanken geschaffen.- Aber das Interesse der Politik kann künftig ja ein anderes sein: Höhere Inflation bedeutet real weniger Schulden.Ein Staatsrechtler hat es so formuliert: Die Übertragung der Geldpolitik auf unabhängige Notenbanken stellt einen Akt der Selbstbindung der Parlamentarier dar. Es ist wie bei Odysseus, der sich am Mast hat anketten lassen, um den Verlockungen der Sirenen nicht zu verfallen. Der damalige französische Präsident François Mitterrand dagegen hat einmal gesagt – und da war die Tinte unter dem Maastricht-Vertrag noch nicht trocken -, dass doch keiner glauben solle, die Politik werde so etwas Wichtiges wie die Geldpolitik nichtgewählten Technokraten überlassen. Aber genau das ist die Botschaft des Maastricht-Vertrages. Im Kern geht es darum, dass man die Geldpolitik dem politischen Einfluss entzieht. Meine Sorge war aber von Anfang an, dass dieses Prinzip irgendwann zur Debatte stehen könnte.- Und jetzt ist es so weit?Die strikte Unabhängigkeit war begrenzt auf das sehr enge Mandat der Preisstabilität. Nun hat man die Notenbanken und vor allem die EZB mit immer neuen Aufgaben betraut: Bankenaufsicht, Finanzstabilität, politische Aufgaben wie in der Troika. Das überfordert die Unabhängigkeit der Notenbanken. Da geht es um Politik, um Fragen der Verteilung. So etwas muss von der Politik entschieden und vor den Wählern verantwortet werden. Ich befürchte, dass es nicht lange dauern wird, bis die Unabhängigkeit der Notenbanken nicht nur wissenschaftlich, sondern auch von der Politik infrage gestellt wird.- Inwiefern ist es da auch problematisch, dass Notenbanker zusehends als eine Art “Popstars” gesehen werden, als Gralshüter wirtschaftlicher Expertise?Ich war selber Notenbanker. Ein hohes Ansehen schmeichelt einem natürlich, kein Mensch bleibt da völlig unbeeindruckt. Aber für mich war das immer anormal, eine Überhöhung. Das extreme Beispiel ist der ehemalige Fed-Chef Alan Greenspan und das Buch mit dem bezeichnenden Titel “Maestro”. Plötzlich war es nicht mehr nur die Notenbank, die als allmächtig angesehen wurde, sondern zugespitzt eine Person. Ich finde einen solchen Kult um eine Notenbank oder einzelne Personen absolut nicht angebracht und angemessen.- Einige Beobachter befürchten, dass all das erst aufhört, wenn Notenbanken entzaubert sind – das aber um den Preis einer Vertrauenskrise ins gesamte Geldsystem. Tatsächlich schürt der EZB-Kurs und auch die Debatte um die Abschaffung des 500-Euro-Scheins Diskussionen, was Geld noch wert ist. Wie sehr besorgt Sie das?Was erstaunlich ist, ist, dass diese Diskussion um das Geldsystem dieses Mal in einer Phase niedriger Inflation kommt, dass dieses Mal im Zustand wirklicher Preisstabilität das Vertrauen in das Geldsystem leidet. Sonst war das Ende von Währungen stets die Hyperinflation. In Deutschland haben wir das in einer Generation zwei Mal erlebt. Aktuell hat das Misstrauen ganz andere Ursachen: Die Menschen fragen sich, ob das alles so weitergehen kann oder ob nicht das dicke Ende noch kommt. Dadurch ist das ganze Geldsystem ins Gerede gekommen. Das alles stärkt das Vertrauen in das Geldsystem und die Notenbanken gewiss nicht.—-Das Interview führten Mark Schrörs und Stephan Lorz.