LEITARTIKEL

Impf-Europameister

Israel ist Impf-Weltmeister, dieser Titel dürfte dem Land schon wenige Tage nach dem Start der weltweit größten Impfaktion nicht mehr zu nehmen sein. Etwas mehr als drei Wochen nach dem Auftakt der Kampagne hat der Levante-Staat bereits mehr als ein...

Impf-Europameister

Israel ist Impf-Weltmeister, dieser Titel dürfte dem Land schon wenige Tage nach dem Start der weltweit größten Impfaktion nicht mehr zu nehmen sein. Etwas mehr als drei Wochen nach dem Auftakt der Kampagne hat der Levante-Staat bereits mehr als ein Fünftel der Bevölkerung mit einer ersten Schutzimpfung gegen eine Covid-19-Erkrankung versehen. Bis Ende März sollen es drei Fünftel sein, womit das Land gute Chancen hat, schon im Frühjahr Herdenimmunität zu erreichen – von Unsicherheiten wie den Eigenschaften möglicher neuer Virus-Mutationen einmal abgesehen. In Deutschland, wo die Impfungen eine Woche später begannen, verfügt nicht einmal 1 % der Bevölkerung über einen Teilschutz gegen Corona.Von einem “Impfchaos” war deshalb schon kurz nach dem Jahreswechsel die Rede. In der Aussprache des Bundestages nach der gestrigen Regierungserklärung von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) zur Impfstrategie erkannten Teile der Opposition sogar ein “Impfdesaster”. In der Kritik steht vor allem die gemeinsame Beschaffung von Impfstoff über die EU-Kommission. In den zurückliegenden Tagen hatte sich deshalb auch der Koalitionspartner an Spahn abgearbeitet. Vizekanzler Olaf Scholz (SPD), der seinem Kabinettskollegen in der vergangenen Woche einen detaillierten Fragenkatalog zur Impfstrategie vorlegte, erneuerte gestern in einem Fernsehinterview indirekt seine Kritik an dem Gesundheitsminister, dem er schon in wenigen Monaten im Wettbewerb um die Nachfolge von Angela Merkel (CDU) im Kanzleramt begegnen könnte. Der Fragenkatalog wurde selbstredend längst an die Öffentlichkeit durchgestochen.Abgesehen von wahlkampftaktischen Überlegungen, gegen die auch die Koalitionspartner zum Start des Superwahljahres 2021 selbst in der Debatte über den richtigen Umgang mit der Pandemie immer weniger immun zu sein scheinen, sind kritische Fragen zur Impfstrategie der Bundesregierung natürlich berechtigt. Schließlich geht es für Deutschland, wo man die Übersicht zu Neuinfektionen in verschiedenen Ländern wie den Medaillenspiegel bei sportlichen Großereignissen grundsätzlich von oben nach unten liest, um mehr als den Titel des Impf-Weltmeisters. Der Erfolg der Impfkampagne entscheidet über Leben und Tod, über wirtschaftliche Existenzen und über das Ausmaß der ökonomischen sowie sozialen Folgeschäden des seit Monaten andauernden Zwangsstillstands in weiten Teilen des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens. Das Impfen entscheidet darüber nicht allein und nicht sofort, wie in Israel diese Woche die rekordhohen Neuinfektionen parallel zu den Impfungen in Rekordgeschwindigkeit und trotz des dritten Lockdowns zeigen. Doch der Impfschutz für mittlerweile etwas mehr als 30 Millionen Menschen weltweit gegen Covid-19 rettet schon jetzt Leben und schafft mittel- bis langfristig die Voraussetzungen für eine schrittweise Normalisierung des Zusammenlebens.Zusammenleben, das bedeutet in Deutschland immer auch das Zusammenleben mit den europäischen Nachbarn, woran Spahn gestern im Bundestag erinnerte, um die Beschaffungsstrategie für Impfstoff in der EU zu rechtfertigen. Man sei sich weiterhin einig darüber, dass eine gemeinsame europäische Beschaffungsstrategie auch im eigenen Interesse sei, hatte die Kanzlerin bereits nach den Bund-Länder-Beratungen in der vergangenen Woche festgelegt. Was nutzt Deutschland der Titel des Impf-Weltmeisters, wenn kleinere Partner innerhalb der EU, mit denen man auch die ökonomische Wiederaufbauarbeit nach der Pandemie gemeinsam organisieren will, beim Wettbieten um Impfstoff an die Wand gedrückt werden, lautet sinngemäß ein Argument der Regierung für die gemeinsame Beschaffung.——Von Stefan ParaviciniIm Kampf um den Titel des Weltmeisters im Impfen hat Deutschland keine Chance. Die Beschaffung von Impfstoff über die EU ist trotzdem richtig.——