DIE FOLGEN EINES BREXIT FÜR EUROPA

In Brüssel steigt die Nervosität

EU-Ratspräsident warnt vor einem siebenjährigen politischen Chaos - Heikle rechtliche Fragen

In Brüssel steigt die Nervosität

Die Spitzenvertreter der EU-Institutionen hatten sich ursprünglich vorgenommen, sich nicht durch individuelle Wortmeldungen in die britische Referendumsdebatte einzumischen. Doch seit der Ausgang auf Messers Schneide steht, geben immer mehr Politiker öffentlich Warnungen ab.fed Brüssel – Angesichts des sich abzeichnenden Kopf-an-Kopf-Rennens beim bevorstehenden Referendum der Briten über Ausstieg oder Verbleib in der Europäischen Union steigt die Nervosität unter EU-Beamten, EU-Parlamentariern und Ministern aus EU-Staaten. “Natürlich sind wir beunruhigt und verfolgen die Entwicklungen genau”, räumt der amtierende Vorsitzende des EU-Finanzministerrats, der Niederländer Jeroen Dijsselbloem, ein. Die Aufregung wachse, “immer mehr Leute werden rappelig”, beschreibt der CDU-Europaabgeordnete Herbert Reul die Stimmung. Und hochrangige EU-Beamte schimpfen über das lauter werdende “Geplapper”.Tatsächlich hat die Zahl der Wortmeldungen zum Thema erheblich zugenommen, seit Umfragen die Lager der EU-Gegner (Brexit) und EU-Befürworter (Bremain) nahe beieinander sehen – nachdem sich das EU-Spitzenpersonal zuvor über Wochen hinweg mit Kommentaren zurückgehalten hatte. Nun jedoch bemüht sich zum Beispiel EU-Ratspräsident Donald Tusk mit teils dramatischen Warnungen vor einem siebenjährigen politischen Chaos darum, die Briten davon zu überzeugen, dass es für sie besser wäre, in der Union zu bleiben.Vor allem drei Sorgen treiben die Profi-Europäer um. Erstens werden kurzfristig Turbulenzen an den Finanzmärkten und langfristig wirtschaftliche Einbußen befürchtet – und damit eine Verschärfung der Probleme in Zeiten eines allenfalls verhaltenen Aufschwungs und hoher Arbeitslosigkeit. Zweitens geht die Sorge um, dass ein Austritt Großbritanniens zur Blaupause für europakritische Parteien in anderen Staaten werden könnte. Blaupause für EuropakritikerIm Blickfeld stehen dabei die Partij voor de Vrijheid von Geert Wilders in den Niederlanden und die französische Front National unter Führung von Marine Le Pen. Demgegenüber werden Spekulationen in Brüssel für wenig realistisch erachtet, dass auch osteuropäische Staaten angestachelt werden könnten, einen Ausstieg anzustreben. In vielen dieser Länder sei der Wille, der europäischen Staatengemeinschaft mit ihren europäischen Werten anzugehören, ausgeprägt – ebenso wie die Sorge, sonst Russland gegenüber isoliert entgegentreten zu müssen.Drittens schließlich gibt es in Brüssel große Bedenken, dass ein Brexit-Votum die EU vor schwerwiegende rechtliche Probleme stellen würde. Der EU-Grundvertrag sieht vor, dass nach einem solchen Votum der Ausstieg innerhalb von zwei Jahren über die Bühne gehen soll. Doch niemand weiß derzeit mit Sicherheit, wie lange die britischen EU-Abgeordneten noch Stimmrecht im EU-Parlament haben, in welcher Form die britischen EU-Beamten bei der Behörde beschäftigt bleiben und ob der englische EU-Kommissar Jonathan Hill weiterhin Regeln für Banken und Börsen vorschlagen darf. Zudem ist unklar, inwieweit sich Banken und andere Finanzmarktakteure in Zukunft noch an EU-Vorgaben halten müssen – oder umgehend wie Unternehmen aus Drittstaaten behandelt werden. Eine “Abwicklung” der britischen Mitgliedschaft binnen zwei Jahren gilt deshalb als sehr ambitioniert.