IM BLICKFELD

In Süditalien gehen langsam die Lichter aus

Von Gerhard Bläske, Mailand Börsen-Zeitung, 13.11.2019 In Taranto tickt eine soziale Bombe, deren Explosion nicht nur Süditalien, sondern auch Rom erschüttern würde. Doch trotz der fast schon verzweifelten Bemühungen von Regierungschef Giuseppe...

In Süditalien gehen langsam die Lichter aus

Von Gerhard Bläske, MailandIn Taranto tickt eine soziale Bombe, deren Explosion nicht nur Süditalien, sondern auch Rom erschüttern würde. Doch trotz der fast schon verzweifelten Bemühungen von Regierungschef Giuseppe Conte, den Stahlkonzern ArcelorMittal durch große Zugeständnisse doch noch dazu zu bewegen, Europas größtes Stahlwerk zu übernehmen, spricht nichts dafür, dass der frankoindische Konzern seinen Rückzug revidiert. 8 300 Arbeitsplätze allein in der Hafenstadt sowie mehrere tausend bei Zulieferern und Kunden würden damit wegfallen. Rund 1,4 % des Bruttoinlandsprodukts Italiens gingen verloren.Es wäre ein Offenbarungseid für die Regierung in Rom, denn damit würde eine der letzten großen Industrieinseln im Süden verschwinden. Das müsste man nicht bedauern. Denn das Stahlwerk war verantwortlich für viele hundert Todesfälle, schwere Erkrankungen und missgebildet zur Welt kommende Kinder. Das bestreitet niemand. Doch Taranto darf schon aus politischen Gründen nicht sterben. Sollte es keinen anderen Interessenten geben, dürfte der riesige Komplex, der seit seiner Gründung 1965 wohl noch nie schwarze Zahlen geschrieben hat, verstaatlicht werden – trotz des zu erwartenden Widerstands aus Brüssel. Damit droht dem italienischen Steuerzahler ein weiteres Milliardengrab, ähnlich wie bei der Fluggesellschaft Alitalia, in die in den letzten 35 Jahren rund 9 Mrd. Euro flossen und die nun einen weiteren Überbrückungskredit erhält.Das Scheitern von Taranto ist ein weiterer Beleg für das Scheitern einer jahrzehntelangen Politik, die den “Mezzogiorno” nicht – wie geplant – ökonomisch an den Norden herangeführt, sondern die Kluft sogar vergrößert hat. Das frühere Fiat-Werk im sizilianischen Termini Imerese hat schon lange zugesperrt. Das gleiche Schicksal droht anderen süd-, aber auch norditalienischen Werken von Fiat-Chrysler, die kurzarbeiten und im Zuge der Fusion mit PSA Opel wohl überflüssig werden. In Neapel gibt es heftige Auseinandersetzung um die Schließung einer Whirlpool-Fabrik und die Volksbank von Bari ist praktisch pleite und soll wohl mit staatlicher Hilfe gerettet werden. Schlusslicht in EuropaItalien ist ökonomisches Schlusslicht in Europa. Die Verschuldung wird laut EU-Kommission 2020 auf knapp 137 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) steigen. Die Konjunktur stagniert, im Süden schrumpft die Wirtschaft sogar. Ein Viertel der Jugend ist arbeitslos. Die Produktivität im Land geht seit Jahren zurück und das Produktionsniveau erreicht erst jetzt wieder das Niveau von 2004. Auf griechische Bonds wurden kürzlich erstmals niedrigere Zinsen gezahlt als auf italienische.Das Land fällt innerhalb Europas zurück. Selbst das slowakische Pressburg ist mittlerweile reicher als etwa die Lombardei. Ganz schlimm sieht es im Süden aus. Kalabrien erreichte 2017 nur noch 58 % des durchschnittlichen europäischen BIP. Kampanien (die Region um Neapel) war mit 62 % kaum besser dran. Das BIP in Süditalien ging zwischen 2008 und 2018 um mehr als 10 % zurück. Zwei Millionen Menschen, meist jüngere und gut ausgebildete, verließen zwischen 2002 und 2017 ihre Heimat gen Norden oder Richtung Ausland. Der Brain-Drain erschwert eine Erholung, denn zurück bleiben die, die am Arbeitsmarkt keine Chance haben.Das Institut Svimez, das sich aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht mit der Entwicklung im Mezzogiorno befasst, kommt zu einem bitteren Fazit. Niedrige Geburtenrate, Überalterung der Bevölkerung und Emigration hätten zur Folge, dass in den nächsten 50 Jahren die Bevölkerung dort um weitere fünf Millionen Einwohner schrumpfe. Die industrielle Basis ist laut Svimez in den letzten Jahren um 6 % gesunken.Wenn die Regierung in Rom nun nach einem gigantischen europäischen Investitionsplan ruft, der über Euro-Bonds finanziert werden soll, dann ist das ein üblicher Reflex, der nicht unbedingt zum Erfolg führt. Denn schon zwischen 2014 und 2020 wurden weniger als 20 % der von der EU etwa im Rahmen des Kohäsionsfonds zur Verfügung gestellten Mittel überhaupt abgerufen. Die Verwaltung ist notorisch ineffizient. Es kommt hinzu, dass ein Großteil der Mittel in die Hände der organisierten Kriminalität (Ndranghetta, Mafia, Camorra etc.) fließt und fehlgeleitet wird, wovon die vielen Industrieruinen zeugen.Das Institut Svimez stellt fest, dass etwa die Ausgaben für Infrastruktur, Bildung oder Infrastruktur sogar gesunken sind – und zwar schon seit 1970. Gewachsen seien dagegen die Sozialtransfers. Jüngstes Beispiel ist die 2018 eingeführte gesetzliche Mindestsicherung, die zwar dazu beigetragen hat, dass die Armutsquote gesunken ist. “Die Auswirkung auf den Arbeitsmarkt ist gleich null”, meint Svimez. Die Distanz zum Arbeitsmarkt wachse sogar. Das relativ hohe Niveau dieser Mindestsicherung macht vielfach die Aufnahme einer Tätigkeit unattraktiv, die Sanktionen sind gering und vielfach wird in der Saison “schwarz” ein Nebenjob zusätzlich übernommen. Oft dient auch die Familie als Auffangbecken.Dabei gibt es, etwa im Biotech-Sektor, der zum Beispiel in den Abruzzen bedeutend ist, oder im Bereich alternativer Energien Ansätze mit innovativen Start-ups und Mittelständlern. Doch die ständigen Regierungswechsel mit unkalkulierbaren Gesetzesänderungen, die schwerfällige Bürokratie, aber auch das Fehlen einer stringenten Industriepolitik etwa zur Verbesserung der Bedingungen für innovative Unternehmen erschweren vielen Unternehmen die Arbeit ebenso wie eine hohe Steuerlast.Eine plötzliche Gesetzesänderung war mit ein Grund für den Rückzug von ArcelorMittal, der Signalwirkung haben könnte. “Wenn das Rad überdreht wird, dann bleiben die Investoren weg”, meint Vincenzo Boccia, Chef des Industriellenverbandes Confindustria. Unternehmer wie Emanuele Grimaldi, Chef der neapolitanischen Reedereigruppe Grimaldi, und Paolo Scudieri, Präsident des Autozulieferers Adler Pelzer, ebenfalls Neapel, fordern für den Süden dringend Investitionen in Infrastruktur sowie Bildung und Ausbildung. Laut OECD gibt es in Italien viel zu wenige Akademiker und Facharbeiter und die, die es gibt, wandern allzu häufig ab. Kurzfristige EffekteEs ist kein Zufall, dass keine neuen Unternehmerpersönlichkeiten wie Giorgio Armani, Leonardo Del Vecchio, Luciano Benetton oder Carlo De Benedetti, alle Mitte 80, nachwachsen. Die Autoren des Buches “Auf der Suche nach den Ursachen des ökonomischen Niedergangs” sehen Italien schon seit 1990 auf Talfahrt. Sie beklagen, dass das Land “nie ernsthaft in Verbesserungen seiner Rahmenbedingungen, etwa des Humankapitals und die Entwicklung der wissenschaftlichen und technologischen Forschung” investiert hat. Es räche sich, dass man nur auf kurzfristige Effekte geschielt habe.