Im InterviewHeribert Dieter

„Indien wird immer wichtiger werden“

Indiens Premierminister Narendra Modi scheint eine Wiederwahl bei den Parlamentswahlen sicher zu sein – unter anderem wegen der wirtschaftlichen Erfolge der Regierung. Wieso das Land für Europa immer wichtiger wird, erklärt Ökonom Heribert Dieter im Interview.

„Indien wird immer wichtiger werden“

„Indien wird immer wichtiger werden“

Herr Prof. Dr. Dieter, von April bis Mai stehen Parlamentswahlen in Indien an. Es sieht sehr nach einer Wiederwahl des Premierministers Narendra Modi und seiner Partei BJP aus. Bestehen daran aus Ihrer Sicht noch Zweifel?

Bei Wahlen ist man vor Überraschungen nie gefeit. Umfragen deuten aber darauf hin, dass er fest im Sattel sitzt. Seine Beliebtheitswerte bei den Wählern sind die höchsten aller G20-Regierungschefs. Daher wäre eine Abwahl eine faustdicke Überraschung.

Wie charakterisieren Sie die Wirtschaftspolitik der Regierung Modi?

Er hat in der Wirtschaftspolitik vieles richtig gemacht. Die Infrastruktur des Landes wird stetig verbessert. Indien öffnet sich vorsichtig immer weiter dem Welthandel, mit Betonung auf vorsichtig. Und der Regierung ist es gelungen, in den vergangenen Jahren viele ausländische Unternehmen nach Indien zu locken. Prominentestes Beispiel hierfür ist Apple, das inzwischen auch in Indien produziert.

Sie haben es bereits angesprochen, weshalb öffnet sich die indische Wirtschaft nur vorsichtig und setzt immer wieder auf Protektionismus?

Dafür muss man einen Blick in die Wirtschaftsgeschichte des Landes werfen. Während der britischen Kolonialzeit war die Wareneinfuhr weitgehend unbeschränkt, aber für Exporte nach Großbritannien galten Restriktionen. Einer liberalen Wirtschaftspolitik wird wegen dieser unglückseligen Verbindung daher durchaus mit Skepsis begegnet in Indien.

Verringert dies die Chancen auf eine Einigung bei den Freihandelsgesprächen zwischen der EU und Indien?

Ob ein Freihandelsabkommen zustande kommt, wird eher in Europa als in Indien entschieden. Indien hat jüngst eine Einigung mit den Efta-Staaten Island, Liechtenstein, Norwegen und der Schweiz erzielt. Dabei ist ein schlankes Abkommen entstanden. Der EU schwebt dagegen eine Vereinbarung vor, die Auswirkungen auf die Sozialpolitik Indiens hätte. Das wird mit Indien nicht zu machen sein. Das Land lehnt dies als Einmischung in innere Angelegenheiten strikt ab. Solange also die EU an einem wertebasierten Freihandelssystem festhält, sehe ich nicht wirklich eine Chance auf eine Einigung.

Der Interviewte: Heribert Dieter ist Experte für Geopolitik, Geoökonomie und Außenwirtschaftspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. Dieter hat dabei insbesondere den indopazifischen Raum im Blick. Seit 2017 arbeitet der Ökonom als außerplanmäßiger Professor an der Universität Potsdam und seit 2023 als Gastprofessor am National Institute of Advanced Studies, Bangalore, Indien. Zudem ist er seit 2009 Ko-Direktor der „Warwick Commission on International Financial Reform“. Bildquelle: Stiftung Wissenschaft und Politik

Wem würde ein Freihandelsabkommen aus Ihrer Sicht mehr nützen?

Beide haben grundsätzlich ein hohes Interesse an einer Einigung. Vor dem Hintergrund der dysfunktionalen Welthandelsorganisation WTO wären bilaterale Regeln wichtig. Für Europa kommt dazu, dass ein Freihandelsabkommen und eine stärkere Partnerschaft auch deshalb bedeutend wären, weil der Einfluss Indiens auf die Geopolitik immer größer wird.

Spielt dabei die in diesem Jahr gewachsene BRICS-Gruppe eine Rolle?

Die BRICS-Gruppe ist ein Ausdruck der Unzufriedenheit mit der derzeitigen politischen Weltordnung, die noch vom Westen dominiert wird. Die BRICS-Mitglieder sind sich einig, dass sie diese Ordnung ändern möchten. Doch dann endet die Einigkeit auch schon. In konkreten Fragen sind diese Länder alles andere als auf einer Linie. Die zunehmende geopolitische Bedeutung Indiens lässt sich eher an anderen Aspekten darstellen.

Welche sind das?

Indien tritt im Konflikt des Westens mit Russland neutral auf. So beteiligt sich das Land etwa nicht an Sanktionen gegen Russland. Im Westen stößt das auf Kritik. Aber es gab keine ernsthafte Diskussion darüber, ob man deswegen Sanktionen gegen Indien verhängen sollte. Dafür ist das Land inzwischen politisch zu mächtig.

Die Rechtssicherheit ist ein großer Vorteil für ausländische Unternehmen mit Standorten in Indien.

Heribert Dieter

Auch wirtschaftlich wird Indien immer mehr zu einer Macht. Bald dürfte die Volkswirtschaft – wegen der hohen Bevölkerungszahl – größer sein als die deutsche. Das Bruttoinlandsprodukt ist zwischen 2014 und 2022 durchschnittlich um 5,6% gewachsen. Was sind die Hauptgründe für das hohe Wirtschaftswachstum?

Modi spricht dabei immer von drei Faktoren: Demografie, Demokratie und der Tatsache, dass Indien kein Zentralstaat ist, anders als etwa China.

Was ist der Vorteil des föderalen Systems für die indische Wirtschaft?

Das Land ist sehr divers und es gibt einen ökonomischen Wettbewerb zwischen den Bundesstaaten. Das führt zu mehr Effizienz.

Indien ist die größte Demokratie der Welt, doch die Regierung Modi fällt auch durch ihre hindu-nationalistische Politik auf, die sich gegen Muslime richtet. Schreckt das den Westen von Investitionen in Indien ab?

Sicherlich macht dies Indien zu einem schwierigen Partner für den Westen. Die BJP macht auch keinen Hehl daraus, dass sie sich als Partei der Hindus versteht. Die Diskriminierung der Muslime dürfte sich daher fortsetzen. Dennoch ist das Land eine stabile Demokratie, anders als China. Durch die Demokratie fallen Entscheidungen in Indien zwar langsamer, aber nachhaltiger. Die Rechtssicherheit ist ein großer Vorteil für ausländische Unternehmen mit Standorten in Indien.

Apple haben Sie bereits angesprochen. Für welche Branchen ist Indien als Standort derzeit besonders attraktiv?

Die Halbleiterindustrie wird staatlich gefördert, daher tut sich in diesem Bereich einiges. Auch für Finanzdienstleister ist Indien interessant. Ein gemischtes Bild gibt es bei der Automobilindustrie. Einige Unternehmen überlegen derzeit, ob sie ihr Engagement verstärken. Auf der anderen Seite hat sich Ford zurückgezogen. Die Neuwagen-Nachfrage in Indien habe man überschätzt.

Je reicher das Land wird, desto geringer wird die Erwerbsquote von Frauen.

Heribert Dieter

Die indische Bevölkerung ist jung, wächst und ist zum Teil sehr gebildet. Könnten indische Einwanderer den deutschen Fachkräftemangel lindern?

Deutschland ist für hoch gebildete Inderinnen und Inder nicht besonders attraktiv. Die gehen lieber in die USA, nach Kanada oder Australien. Dort sind die Verdienste höher, die Sozialausgaben niedriger und es gibt ein multikulturelles Umfeld. Deutsche Unternehmen gehen daher einen anderen Weg.

Welchen?

Sie produzieren verstärkt in Indien Produkte für den deutschen Markt. Ein Beispiel hierfür ist Mercedes-Benz. Das Unternehmen hat in Bangalore einen großen Standort, an dem Software für die Produktion der Automobile in Deutschland entwickelt wird. Beim Thema Bevölkerung würde ich gerne noch einen Aspekt ansprechen, über den wenig geredet wird.

Welcher ist das?

Die Erwerbsquote von Frauen in Indien. Je reicher das Land wird, desto geringer wird sie. Inzwischen liegt sie mit 25% sogar unterhalb der Quote in Saudi-Arabien. Weshalb immer weniger Frauen arbeiten, ist für mich eines der großen Rätsel Indiens. Ich habe mit vielen Inderinnen und Indern gesprochen und niemand konnte mir das überzeugend erklären. Die Ursache dürfe gesellschaftlicher Natur sein. Gesetzlich sind Frauen nicht benachteiligt.

Könnte das ein ökonomisches Problem werden, wenn dann irgendwann mal die Bevölkerung nicht mehr wächst?

Ich sehe darin eher eine Chance. Beim Thema Frauenarbeit hat Indien jede Menge ungenutztes Potenzial, das die Wirtschaft noch heben kann.

Kommen wir zum Thema Klimawandel. Indien ist davon relativ stark betroffen. Könnte dies zu einem Risiko für die indische Wirtschaft werden?

Das Land ist erfahren im Umgang mit schwierigen Wetterverhältnissen. Die Frage, wie der Monsun ausfällt, beschäftigt die Wirtschaft schon immer. Klimarisiken sehe ich stärker bei den Auswirkungen der Umweltverschmutzung im Land. So ist die Luftqualität zum Beispiel in Neu-Delhi sehr schlecht. Noch gravierender könnte das Thema Wasserversorgung werden.

Die Importzölle müssten stärker sinken, als dies geplant ist.

Heribert Dieter

Weshalb?

Ein Großteil des Wassers kommt aus dem Himalaya. Die für Indien wichtigsten Quellen stehen unter der Kontrolle Chinas. Es gibt Überlegungen in China, den Fluss Brahmaputra umzuleiten. Für Indien und auch für Bangladesch hätte das gravierende Folgen. Und beide Staaten haben keine Handhabe dagegen, wenn Peking diese Pläne tatsächlich umsetzen sollte.

Das ist ein Risiko für die Menschen und auch die Wirtschaft. Was könnte Indien noch ausbremsen?

Die Importzölle müssten stärker sinken, als dies geplant ist. Da sind wir wieder beim Thema der Vorbehalte gegen eine liberale Wirtschaftspolitik.

Die indische Regierung hat sich das Ziel gesetzt, dass Indien bis 2047, dem 100. Geburtstag der Unabhängigkeit von Großbritannien, eine entwickelte Industrienation ist. Was ist Ihre Prognose, schafft Indien das?

Das ist ein ambitioniertes Ziel. Mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung unter Modi scheint es aber machbar. Wenn sich die positive Entwicklung fortsetzt, dann halte ich es für denkbar, dass Indien sein Ziel erreicht. Indien wird immer wichtiger werden.

Im Interview: Heribert Dieter

Die größte Demokratie der Welt wächst zum wirtschaftlichen und politischen Schwergewicht heran

Indiens Premierminister Narendra Modi scheint eine Wiederwahl bei den Parlamentswahlen sicher zu sein – unter anderem wegen der wirtschaftlichen Erfolge der Regierung. Wieso das Land für Europa immer wichtiger wird, erklärt Ökonom Heribert Dieter im Interview.

Das Interview führte Martin Pirkl.

Das Interview führte Martin Pirkl.

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