GASTBEITRAG

Indiens Wachstumsstory bleibt intakt

Börsen-Zeitung, 7.11.2018 Deutschland ist die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt, soweit bekannt. Doch auf den Plätzen dahinter gab es unlängst eine beachtenswerte Entwicklung - weitgehend unbemerkt in Europa. Indien überholte erstmals Frankreich...

Indiens Wachstumsstory bleibt intakt

Deutschland ist die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt, soweit bekannt. Doch auf den Plätzen dahinter gab es unlängst eine beachtenswerte Entwicklung – weitgehend unbemerkt in Europa. Indien überholte erstmals Frankreich beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) und ist zur sechstgrößten Volkswirtschaft der Welt aufgestiegen.Auch wenn die aktuellen Nachrichten aus Indien gemischte Signale liefern und die Rupie wie andere Schwellenländer-Währungen in Asien stark schwankt, sollte dies nur einen temporären Effekt auf das weitere Wirtschaftswachstum haben. Daher ist damit zu rechnen, dass Indien beim BIP auch Großbritannien in nicht allzu ferner Zukunft überflügelt. Wie lange die Aufholjagd dauert, um Deutschland Platz 4 streitig zu machen, bleibt abzuwarten. Sollten die Wachstumsraten beider Länder und der Wechselkurs auf einem ähnlichen Niveau wie derzeit bleiben, wird auch Deutschland langfristig von Indien überholt werden.Zudem wächst nicht nur die indische Wirtschaft deutlich, sondern auch die Bevölkerung. Prognosen gehen davon aus, dass Indien im Jahr 2024 China als bevölkerungsreichstes Land der Welt ablöst. Mit dem Bevölkerungswachstum entsteht gleichzeitig eine Mittelschicht, die wiederum den inländischen Konsum antreibt. Das Erwachen des TigersIm Jahr 2000 gehörte Indien mit einem BIP von nur 467 Mrd. Dollar nicht einmal zu den Top Ten der Welt. Deutschlands BIP lag damals bei etwa 2,2 Bill. Dollar, fast fünfmal so viel wie das Indiens; und Deutschland war die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Seither ist das BIP in Deutschland um 67 % auf 3,7 Bill. Dollar gestiegen, während sich das indische auf 2,6 Bill. Dollar fast versechsfacht hat.Der Boom lässt sich auch am Anstieg des indischen Aktienmarkts ablesen. Der Blue-Chip-Index Nifty 50 lag im Januar 2000 bei 1 546 Punkten. Im August 2018 notierte er bei mehr als 11 700 Punkten, eine Verachtfachung in 18 Jahren. Im selben Zeitraum hat sich der Dax von 6 835 Punkten Anfang 2000 knapp verdoppelt. Selbst unter Berücksichtigung der Wechselkursentwicklung indische Rupie vs. Euro hätte ein Anleger in Deutschland ein Plus von 300 % erzielt!Indiens heutige Stellung im Welthandel baut nicht nur auf seiner Kolonialgeschichte auf, sondern beruht auch auf den Wurzeln als Seefahrernation, die seit vielen Jahrhunderten in den globalen Warenfluss involviert ist. Eurostat zufolge ist Indien heute der 14.-größte Exporteur von Waren in der Welt mit einem Anteil von 2,1 % an den globalen Exporten und der neuntgrößte Importeur mit einem Anteil von 2,8 % an den globalen Einfuhren. Es verwundert nicht, dass Deutschland auch im bilateralen Handel mit Indien einen Überschuss aufweist (wie übrigens mit 168 weiteren Ländern). Indiens Handelsdefizit ist mit 2,2 Mrd. Euro jedoch relativ klein; den deutschen Exporten von 10,7 Mrd. Euro stehen Einfuhren von 8,5 Mrd. Euro im Jahr 2017 gegenüber. Zum Vergleich: Die Überschüsse Deutschlands im Handel mit den USA betragen 50,4 Mrd. Euro und mit Großbritannien 47,3 Mrd. Euro. Die sektorale Aufteilung der deutschen Exporte nach Indien reflektiert die bekannten deutschen “Stärken”: Maschinen und Elektrogeräte (43,1 %), Chemie (11,9 %), Metalle (7,9 %), Transport (7,8 %) und Kunststoff oder Gummi (5,4 %).Indien ist nicht nur ein wichtiger Handelspartner für die deutsche Industrie, sondern auch ein wichtiger Standort für Direktinvestitionen deutscher Unternehmen, wodurch sie auch zunehmend vor Ort präsent sind. Deutschland ist derzeit der siebtgrößte ausländische Investor in Indien mit einer Gesamtsumme von 9,7 Mrd. Dollar (2000 bis März 2017). Große deutsche Unternehmen haben in den vergangenen Jahren ihre Investitionen in Indien deutlich erhöht, darunter beispielsweise Automobilunternehmen wie BMW, Daimler, Audi, Volkswagen und Porsche. So eröffnete Mercedes-Benz 2009 eine Produktionsstätte in der Stadt Chakan, und auch Volkswagen errichtete ein Werk mit einer Kapazität von 110 000 Fahrzeugen jährlich. Weitere bekannte Namen umfassen Siemens, Bosch, Bayer, BASF, Adidas, SAP und die Deutsche Bank – aber es sind nicht nur die großen Namen, die dort tätig sind. Hilfen für MittelstandDenn auch der deutsche Mittelstand genießt die Aufmerksamkeit der indischen Politik. So hat die indische Botschaft mit Unterstützung der Bundesregierung mit “Make in India Mittelstand” (MIIM) ein Programm zur Unterstützung des Markteintritts deutscher Familienunternehmen gestartet – basierend auf dem Erfolg Indiens als Partnerland der Hannover Messe 2015. Im März 2018 wandte sich MIIM an mehr als 350 deutsche mittelständische Unternehmen, von denen sich 113 als offizielle Mitglieder registriert haben. Das Programm unterstützt Investitionsvorhaben von mehr als 800 Mill. Euro in Indien durch deutsche Mittelständler, unter anderem in Branchen wie Chemie, erneuerbare Energien, Konsumgüter, Umwelt, Infrastruktur und Mobilität. Insgesamt sind schätzungsweise mehr als 1 700 deutsche Unternehmen in Indien tätig und beschäftigen rund 400 000 Menschen.Indische Unternehmen haben in Deutschland seit 2010 mit mehr als 24 000 Mitarbeitern rund 140 Großinvestitionsprojekte realisiert und mehr als 40 M&A-Deals abgeschlossen. Historisch wenig überraschend ist, dass Großbritannien rund 45 % der indischen Direktinvestitionen verzeichnet, mit 16,5 % folgt Deutschland. Schätzungen zufolge erzielen indische Unternehmen, die in Deutschland tätig sind, einen Gesamtumsatz von 11,4 Mrd. Euro pro Jahr, wovon fast die Hälfte aus der Metall- und Metallverarbeitungsindustrie und ein Drittel aus der Automobilindustrie stammen. Zu den größten Unternehmen gehören Hindalco Industries, Tata Steel, Motherson Sumi Systems, Amtek Auto, Wipro Technologies und HCL Technologies.Schon im Jahr 2000 haben Indien und Deutschland im Rahmen ihres regelmäßigen bilateralen Austauschs offiziell eine strategische Partnerschaft unterzeichnet. Bundeskanzlerin Merkel war 2015 zu einem dreitägigen Besuch in Indien, bei dem mehrere Handelserleichterungen vereinbart wurden. Premierminister Modi besuchte Deutschland 2017 zweimal und war im April 2018 erneut zu Besuch.Am Rande der deutsch-indischen Regierungskonsultationen hat Deutschland 2017 beispielsweise rund 1 Mrd. Euro jährlich an Unterstützung zugesagt. Damit sollen Infrastrukturvorhaben, urbane Mobilität und Klima-Resilienz unter der Initiative “Smart Cities” der indischen Regierung gefördert werden. Diese Pläne wurden im August 2018 durch entsprechende Vereinbarungen offiziell unterzeichnet. Viel WachstumspotenzialBereits 2006 wurde das Indo-German Energy Forum (IGEF) von Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem ehemaligen indischen Premierminister Manmohan Singh gegründet. Ziel war und ist es, den politischen Dialog über Energiesicherheit, Energieeffizienz und erneuerbare Energien sowie gemeinsame Forschung und Entwicklung zu fördern. Sowohl Indien als auch Deutschland wollen in dieser Wachstumsbranche des 21. Jahrhunderts weltweit führend sein. Beide haben seither bemerkenswerte Fortschritte erreicht: Der Anteil der erneuerbaren Energie am deutschen Strommix wächst kontinuierlich. Indien hat stark aufgebaut, wodurch die derzeit installierte erneuerbare Energiekapazität mit 108 Gigawatt (GW) nur noch minimal hinter den 112 GW Deutschlands liegt. Bald fünftgrößte ÖkonomieZusammengefasst: Die indische Wirtschaftsentwicklung ist beeindruckend, wodurch das Land sehr wahrscheinlich bis Ende 2020 zur fünftgrößten Volkswirtschaft der Welt aufsteigt. Infolgedessen beginnt das Land stärker in den Fokus von Investoren und Unternehmern zu rücken, weiter zunehmende bilaterale Handelsströme und Direktinvestitionen sind daher realistisch. Indien ist nicht nur ein Land der Möglichkeiten, sondern ein Land für konkrete Maßnahmen mit vielversprechenden Projekten und mit Wachstumspotenzial für Investoren. Es ist unwahrscheinlich, dass die derzeitigen Währungsschwankungen und die aktuelle Marktvolatilität Indiens Wirtschaft vom langfristigen Wachstumspfad abbringen.—-Nick Parsons, Head of Research & Strategy, ThomasLloyd Group