Irische Irreführung
Gastbeitrag
Irische Irreführung
Von Norman Liebke
Trauen Sie keiner Statistik, die Sie nicht selbst verstanden haben. So oder so ähnlich könnte der Leitsatz lauten, wenn man sich die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung Irlands anschaut. Multinationale Konzerne wie Google oder Apple beeinflussen die Rechnung enorm und verzerren damit das gesamtwirtschaftliche Bild, auch der Eurozone.
Ist es nicht beeindruckend, dass die irische Volkswirtschaft ein durchschnittliches Jahreswachstum seit 1996 von 6% aufweist? Die Eurozone ohne Irland ist im gleichen Zeitraum um durchschnittlich etwa 1,5% und Deutschland um knapp 1,2% pro Jahr gewachsen. Auch im internationalen Vergleich steht Irland überraschend positiv da. Selbst wenn man auf die Wirtschaftsleistung pro Kopf schaut, erkennt man, dass Irland im weltweiten Vergleich Platz 6 belegt und im europäischen Vergleich sogar an zweiter Stelle (nach Luxemburg) steht. Ein echter europäischer Tiger, könnte man sagen. Aber ist die irische Wirtschaft wirklich so prosperierend, wie es die Daten vermuten lassen?
Mehr Schein als Sein
Na ja, ganz so einfach lässt sich die Frage nicht beantworten. Methodisch wurden die europäischen Standards (nach ESA 2010 – dem European System of Accounts – und Anwendung der Saisonbereinigung) zur Berechnung der Wirtschaftsleistung, wie sie beispielsweise auch von Deutschland verfolgt werden, korrekt umgesetzt, das steht außer Frage. Jedoch wird schnell klar, dass das durchschnittliche Wachstum von 6% nur zu einem Teil auf die tatsächliche Produktion der Iren zurückzuführen ist und sich auf einen wesentlichen Faktor beschränken lässt: multinationale Konzerne (MNEs). Die attraktiven Unternehmenssteuern, Subventionen für forschende Unternehmen und der Freihandel im EU-Binnenmarkt – das alles sind entscheidende Pro-Argumente für Konzerne, um in Irland einzusteigen. Und genau dies hat sich in den letzten Jahrzehnten abgespielt. Apple, Meta Platforms, Alphabet und hunderte weitere US-Unternehmen haben einen Sitz bzw. ihr europäisches Hauptquartier in Irland gegründet.
iPhones werden in Irland hergestellt?
Die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR) wird von den Konzernen in der sogenannten Verwendungsrechnung wie folgt beeinflusst: Beim „Onshoring“ von immateriellen Vermögenswerten verändern sich gleich mehrere wesentliche Größen in der VGR. Zum einen steigen die Investitionen, da immaterielle Vermögenswerte nach Irland verschoben werden und diese in die Investitionen mit einfließen. Zum anderen nehmen die Importe zu, da das geistige Eigentum aus dem Ausland, meist aus Steueroasen, nach Irland transferiert wird.
Diese beiden Größen gleichen sich bei der Berechnung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) meist nahezu aus. Wenn man also nur das aggregierte Wirtschaftswachstum betrachten möchte, ist eine dritte Größe, die die Konzerne beeinflussen, von wesentlichem Interesse, und das ist die Auftragsfertigung. Lässt ein MNE mit Sitz seines geistigen Eigentums in Irland physische Güter (z. B. iPhones) im Ausland herstellen, dann ist das für die Statistiker so, als ob die iPhones in Irland produziert werden.
In der sektoralen Rechnung (die sogenannte Entstehungsrechnung) wird dieser Vorgang ins verarbeitende Gewerbe einbezogen, in der sogenannten Verwendungsseite taucht die Auftragsfertigung dieser Art bei den Güterexporten auf. Und die Bedeutung der MNEs mit Sitz in Irland ist für die Berechnung des Wirtschaftswachstums nicht zu unterschätzen: Der Internationale Währungsfonds (IWF) rechnete vor, dass der Verkauf von iPhones im Jahr 2017 einen Beitrag zur irischen Wirtschaftsleistung von 25% geleistet haben dürfte. Selbst wenn die Rechnung des IWF nur ansatzweise stimmt, zeigt es, dass MNEs die irischen Daten erheblich verzerren, und das ist in der Vergangenheit mehrfach aufgefallen.
"Kobold-Ökonomie"
Vor allem 2015 stand Irland aufgrund der stark schwankenden BIP-Zahlen in den Schlagzeilen. Der Ökonom und Nobelpreisträger Paul Krugman verspottete die vom irischen Statistikamt veröffentlichten Wachstumszahlen für 2015 mit dem Begriff „leprechaun economics“ (zu deutsch: Kobold-Ökonomie): Scheinbar ist die Wirtschaft der Republik magischerweise um 26,3% im Vergleich zum Vorjahr expandiert. Letztlich stellte sich heraus, dass einige wenige multinationale Konzerne für dieses sagenhafte Wachstum verantwortlich waren, die, ähnlich wie der Kobold aus der Sagenwelt, ihren Goldtopf beschützen wollen. In diesem Fall sind es jedoch die erwirtschafteten Gewinne, die durch Steueroptimierungsmodelle vor höheren Steuersätzen „beschützt“ wurden. Dadurch wird vor allem aus der quantitativen Sicht deutlich, welche Herausforderungen das Phänomen der "Kobold-Ökonomie" mit sich bringt.
Rezession oder nicht?
Vor einigen Wochen war wieder so ein Fall. Das Statistikamt Eurostat veröffentlichte revidierte Zahlen zum Wirtschaftswachstum in der Eurozone. Und oh Schreck, es wurde das zweite Mal in Folge ein negatives Wachstum berichtet, die Währungsunion befand sich also in einer technischen Rezession, was für viel Aufsehen gesorgt hat. Das irische BIP ist im ersten Quartal um 4,6% geschrumpft. Der Effekt auf das BIP der Eurozone ist beachtlich, denn ohne Irland wäre die Eurozone im ersten Quartal nicht um 0,1% geschrumpft, sondern um 0,1% expandiert. Die Schlagzeilen der Wirtschaftsmedien hätten ganz anders gelautet.
Mehr Licht ins Dunkel bringen
Diese Verzerrungen sind ein Problem, wird das BIP doch für wirtschaftspolitische Entscheidungen und für internationale Vergleiche herangezogen. Alternativen müssen her, die die wirkliche Wirtschaftsleistung der Iren messen. Eine Möglichkeit ist es, den sogenannten tatsächlichen individuellen Konsum als Repräsentant für die wahre Wirtschaftsleistung zu verwenden. Während man in Deutschland nach diesem Maßstab ein durchschnittliches Wachstum von 1,1% seit 1996 sehen kann (was sehr nah an dem durchschnittlichen BIP-Wachstum von 1,2% liegt), misst man in Irland nur noch etwa die Hälfte des offiziell ausgewiesenen BIP-Wachstums. Aus dem Tiger wird dadurch nicht unbedingt ein Bettvorleger, denn 3% ist immer noch ein im europäischen Vergleich guter Wert. Dennoch sollten die Zahlen aus Irland, auch zur Abschätzung der Wachstumsdynamik der Eurozone, kritischer hinterfragt werden, als dies üblicherweise zu geschehen scheint.