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Irland hätte unter "No Deal" am meisten zu leiden

Von Andreas Hippin, London Börsen-Zeitung, 20.12.2018 Irland wird am meisten zu leiden haben, sollte Großbritannien die EU ohne jede Übereinkunft mit Brüssel verlassen. Derzeit bereiten sich beide Seiten auf das gefürchtete "No Deal"-Szenario vor,...

Irland hätte unter "No Deal" am meisten zu leiden

Von Andreas Hippin, LondonIrland wird am meisten zu leiden haben, sollte Großbritannien die EU ohne jede Übereinkunft mit Brüssel verlassen. Derzeit bereiten sich beide Seiten auf das gefürchtete “No Deal”-Szenario vor, denn für den im Namen der britischen Premierministerin Theresa May ausgehandelten Deal gibt es im Unterhaus keine Mehrheit. Dabei hatte der irische Premier Leo Varadkar noch im Oktober behauptet, ein Deal sei binnen zwei Wochen zu erreichen – anders als sein Vorgänger Enda Kenny hat er wenig Erfahrung in der europäischen Politik. Die im Austrittsvertrag festgeschriebene Notlösung zur Vermeidung einer harten EU-Außengrenze durch Irland würde Großbritannien so lange zum Verbleib in der Zollunion zwingen, bis sich beide Seiten auf eine bessere Lösung einigen können. “No-Deal Deal”Irland ist das einzige Land der Staatengemeinschaft, das über eine Landgrenze mit Großbritannien verfügt. Alle Seiten behaupten, keine Schlagbäume und Zollhäuschen errichten zu wollen, um den Friedensprozess in Nordirland nicht zu gefährden. Man werde sich auf eine “harte” Grenze gar nicht erst vorbereiten, sagte Varadkar im Juni. Bislang sagt seine Regierung, es gebe keine Notfallpläne für die Grenze für den Fall, dass bis zum 29. März keine Einigung erzielt wird. Allerdings sprach der irische Premier auch einmal von einem “No-Deal Deal”, der in diesem Fall erforderlich wäre. Denn plötzlich hätte die EU eine offene Außengrenze. Um des lieben Friedens willen wurde bisher so manches toleriert. Unterschiede bei der Besteuerung machen den Schmuggel von Kraftstoffen und Tabak lukrativ – zeitweise so attraktiv, dass sich nordirische Tankstellenbetreiber in ihrer Existenz gefährdet sahen und Diesel für Landmaschinen eingefärbt wurde, um den Verkauf an Autofahrer zu erschweren. Gehört Ulster nicht mehr zur Zollunion, wäre damit wohl schnell Schluss – eine unangenehme Wahrheit für die Regierung im Süden, die plötzlich gezwungen wäre, die Grenze des Handelsblocks zu sichern.100 Tage vor dem britischen Austrittstermin wiederholte Varadkar gestern, dass er einen Hard Brexit für “unwahrscheinlich” halte. Ein Nachtragshaushalt werde ebenfalls nicht nötig sein. Man habe das im Oktober vorgelegte Budget mit Blick auf den möglichen Fall-out des Brexit erstellt. Oppositionspolitiker warfen seiner Regierung Geheimniskrämerei und mangelnden Respekt vor dem Parlament vor.Varadkar pokert hoch, denn die Volkswirtschaft der Grünen Insel ist eng mit dem Vereinigten Königreich verbunden. Rund 12 % der Güterexporte gehen nach Großbritannien, bei Nahrungsmitteln sind es zwei Fünftel. Wichtiger noch: 23 % der Güterimporte stammen von dort. Im Falle eines Ausstiegs der Briten aus dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) könnten hohe Zölle fällig werden. Irland ist der größte Rindfleischexporteur der nördlichen Hemisphäre, rund die Hälfte davon geht nach Großbritannien. Der WTO-Zoll für Rindfleisch ohne Knochen liegt bei 60 %. Zudem könnten die irischen Rinderfarmen preislich kaum mit Importen aus Brasilien mithalten, denen nach dem Brexit nichts mehr im Wege stehen würde. Auf Schweinefleisch könnten Zölle in ähnlicher Höhe fällig werden. Davon wäre aber vor allem Dänemark betroffen. Hohe ImportabhängigkeitDie gesamte Beschaffungskette Irlands und der Großteil des Fahrzeugverkehrs mit der EU gehen durch das Vereinigte Königreich. Besonders stark ist die Importabhängigkeit in Sachen Energie und im Einzelhandel. Ob Lego oder Playmobil fürs Kind, Badprodukte von Geberit oder die Waren, mit denen der Einzelhändler Tesco die Regale nachfüllt – nahezu alles kommt durch Großbritannien nach Irland. Zwei Drittel der Produkte in den Supermärkten stammen entweder von dort oder werden durch Großbritannien geliefert. Die Schiffszeiten nach Frankreich sind deutlich länger. Ein harter Brexit wäre ähnlich dramatisch wie die Finanzkrise. Einer Studie der irischen Denkfabrik ESRI (Economic and Social Research Institute) zufolge könnte ein harter Brexit die Preise in Irland um 2 % bis 3 % nach oben treiben. Dadurch würden sich für die Verbraucher die Einkäufe im Schnitt um 892 bis 1 350 Euro pro Jahr verteuern.Nach Schätzung des irischen Finanzministeriums könnte das Bruttoinlandsprodukt im Falle eines Hard Brexit in zehn Jahren um 4,5 % niedriger liegen. Die Denkfabrik Copenhagen Economics kam in einer von der Regierung beauftragten Studie zu dem Schluss, dass es 2030 um 7 % niedriger ausfallen könnte. Der Internationale Währungsfonds (IWF) unterstellte einmal den Verlust von 50 000 Stellen. Ein abrupter Exit der Briten würde das irische Wachstum im kommenden Jahr nahezu halbieren, schätzen die ESRI-Volkswirte. Und das sei vielleicht noch zu optimistisch, weil darin eine ganze Reihe von Faktoren wie Verwerfungen an den Finanzmärkten oder fehlender Zugang zu internationalen Beschaffungsketten nicht berücksichtigt seien.