Italien, Europas kranker Mann
Bis Anfang Oktober sonnte sich Premierminister Giuseppe Conte im Glanz der im Vergleich zu den Nachbarländern niedrigen Coronavirus-Ansteckungsraten. Doch statt die Zeit zu nutzen, um das Gesundheitssystem zu stärken, blieb die Regierung untätig. Nun galoppiert die Pandemie im ganzen Land, die Krankenhäuser stehen vor dem Kollaps. Die intern völlig zerstrittene Regierung liefert sich Schaukämpfe mit den Regionen über die zu ergreifenden Maßnahmen und beschließt Regelungen, die keiner versteht, weil sie von Region zu Region und manchmal von Stadt zu Stadt unterschiedlich sind.Mediziner fordern längst einen strengen nationalen Lockdown, den Conte aus politischen Gründen (noch) verhindern will. Nicht nachvollziehbar ist, dass Rom die von Brüssel bereitgestellten 36 Mrd. Euro für die Sanierung des Gesundheitswesens nicht nimmt. Und noch immer ist unklar, wofür die Regierung die 209 Mrd. Euro, die Europa in Form von Zuschüssen und günstigen Krediten zur Verfügung stellt, verwenden will.Insgesamt 100 Mrd. Euro an Hilfsgeldern hat Rom bisher für Wirtschaft, Kultur, Sport und Einkommenshilfen der Bürger mobilisiert. Ein neuer Nachtragshaushalt, der das Defizit um weitere 15 Mrd. bis 20 Mrd. Euro erhöht, ist in Vorbereitung. Ständig werden Dekrete mit neuen Hilfen verabschiedet. Doch das Geld kommt oft nicht an. Dagegen fließen große Summen in die aus demografischen Gründen unverständliche Frühverrentung oder in eine Mindestsicherung, die oft durch Schwarzarbeit “aufgebessert” wird. Kontrollen und Sanktionen gibt es aber kaum. Viel Geld wird auch für Rettungsaktionen für Banken wie Carige, die Volksbank von Bari und Monte dei Paschi sowie das Stahlunternehmen Ilva in Taranto oder die Fluggesellschaft Alitalia verschleudert, die schon lange vor der Coronavirus-Krise pleite waren. Ausländische Investoren werden durch kurzfristige Gesetzesänderungen oder die Abschottung ganzer Wirtschaftssektoren sowie Verstaatlichungen abgeschreckt.Die Gefahr ist groß, dass Italien auch die einmalige Chance verspielt, die das europäische Wiederaufbauprogramm bietet. Selbst EU-Kommissar Paolo Gentiloni befürchtet, dass Rom gar nicht in der Lage ist, das Geld für sinnvolle Investitionen zu verplanen, die Projekte auszuschreiben und die Mittel auch auszugeben. Vermutlich dürfte ein Großteil der Gelder entweder irgendwo liegenbleiben, so wie die nicht abgerufenen Mittel aus europäischen Programmen, oder in dunklen Kanälen versickern. Oder es werden damit am Ende doch einfach nur Haushaltslöcher geschlossen.Italien verfügt über eine starke wirtschaftliche Basis mit leistungsstarken Mittelständlern in der Automobil- und Pharmaindustrie, im Maschinenbau oder in der Modebranche. Aber viele Unternehmen sind kapitalschwach und investieren zu wenig. Die Produktivität in Italien ging 2019 um 0,5 % zurück und ist seit 1995 nur um durchschnittlich 0,3 % pro Jahr gewachsen. Italien ist seit Jahren der kranke Mann Europas. Die Wirtschaft ist kleiner als Ende der 1990er Jahre, die Geburtenraten sind die niedrigsten in Europa und zu wenige junge Leute erwerben einen höheren Abschluss. Das Bruttoinlandsprodukt dürfte 2020 um 10 bis 12 % sinken, die Schulden auf bis zu 170 % gemessen an ihm steigen. Einstweilen verhindern Moratorien, Finanzhilfen, Steuerstundungen und Kreditgarantien sowie großzügige Kurzarbeiterregelungen Schlimmeres. Doch die sozialen Spannungen wachsen. Wenn die Sondermaßnahmen auslaufen, droht eine wirtschaftliche Katastrophe und ein Übergreifen der Krise auf den Finanzsektor.Noch ist es nicht so weit. Dank europäischer Hilfsmaßnahmen, der Vergemeinschaftung von Schulden und massiver Aufkäufe italienischer Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank sinkt die Zinslast des Landes trotz steigender Schulden. Wehe, die Maßnahmen laufen aus und die Zinsen steigen.Italien ist ein Pulverfass, das ganz Europa zerreißen könnte. Brüssel schaut bang auf die Entwicklung und zeigt sich nachgiebig. Doch Premierminister Conte verliert dramatisch an Zustimmung. Bei Neuwahlen würde wohl die politische Rechte triumphieren, vor allem die europakritischen Rechtspopulisten von Matteo Salvinis Lega und Giorgia Melonis postfaschistischen Fratelli d’Italia. Der Abstand zu den Volkswirtschaften des Nordens, deren Bürger kaum bereit sein dürften, Italien ad infinitum unter die Arme zu greifen, wächst. Über einen temporären Austritt Italiens aus der Eurozone sollte man zumindest nachdenken. ——Von Gerhard BläskeItalien ist seit Jahren der kranke Mann Europas. Die Wirtschaft ist kleiner als Ende der 1990er Jahre, die Geburtenraten sind die niedrigsten in Europa.——