VOR DER ZINSWENDE

IWF rät zu "kluger Verschuldung"

Auf und Ab der Weltkonjunktur hat für Paradigmenwechsel beim Währungsfonds gesorgt - Plädoyer für differenzierte und antizyklische Haushaltspolitik

IWF rät zu "kluger Verschuldung"

Von Peter De Thier, WashingtonBeim Internationalen Währungsfonds (IWF), der seinen Mitgliedsländern traditionell zu restriktiver Fiskalpolitik geraten hatte, haben die wechselhaften Konjunkturzyklen der vergangenen Jahre zu einem bemerkenswerten Paradigmenwechsel geführt. Vor dem Hintergrund überraschend robusten und weitgehend inflationsfreien globalen Wachstums plädiert der IWF nun für einen nuancierteren Ansatz bei der Haushaltspolitik. Von “kluger Verschuldung”, die der konjunkturellen Situation und Verschuldung einzelner Länder Rechnung trägt, erwarten die IWF-Ökonomen nicht nur inflationsfreies Wachstum. Sie setzen außerdem auf positive verteilungspolitische Effekte, die helfen könnten, das zunehmende Wohlstandsgefälle abzubauen.Früher drang der Währungsfonds typischerweise auf fiskalische Zurückhaltung und konsequenten Defizitabbau. Noch 2005, als sich die Preisblase am US-Häusermarkt ihrem Höhepunkt näherte, warnte der Fonds in seinem Weltwirtschaftsausblick (WEO), dass das globale Wachstum zu sehr von einer Handvoll “großer Industriestaaten mit nicht mehr tragfähigen Defiziten gestützt wird”. Entsprechend forderte der IWF drastische Sparprogramme und einen konsequenten Defizitabbau, der vor allem in der weltgrößten Volkswirtschaft unter dem damaligen Präsidenten George W. Bush “nicht ehrgeizig genug” sei.Gut drei Jahre danach, als sich die globale Konjunktur im Würgegriff der tiefsten Rezession seit der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre befand, kam die Kehrtwende. Unter der Ägide von IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn und Chefökonom Olivier Blanchard plädierte der Fonds angesichts des tiefen Einbruchs der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage für einen “substanziellen fiskalischen Stimulus” – und zwar vorläufig ohne Rücksicht auf die kurz- und mittelfristigen defizitären Folgen.Als die Ausgabenprogramme ebenso wie die Schuldenkrise in Europa dann aber tatsächlich vielerorts die Staatsfinanzen aus dem Ruder laufen ließen, bezogen die Experten beim Währungsfonds eine neue Position. Plötzlich stand wieder Defizitbekämpfung im Mittelpunkt. Diese müsse allerdings “langsam und ebenmäßig” erfolgen, mahnte Blanchard zu einer maßvollen, ausgewogenen Anpassung der Haushaltspolitik.Nun setzen sich IWF-Chefin Christine Lagarde und Chefvolkswirt Maurice Obstfeld für eine differenzierte und antizyklische Haushaltspolitik ein, die strikt keynesianische Merkmale aufweist. Die Idee der “klugen Verschuldung” zielt darauf ab, haushaltspolitische Empfehlungen strikt daran auszurichten, wie tragfähig und zugleich ökonomisch effektiv die Vorgaben für einzelne Länder sind. Ein entsprechendes Arbeitspapier, das um einen “multidimensionalen Ansatz” zur Bewertung des fiskalpolitischen Spielraums bemüht ist, enthält eine entsprechend klare Vorgabe. Demnach bezeichnen die IWF-Experten diesen Spielraum als die Fähigkeit eines Staates, neue Ausgabenprogramme zu beschließen oder Steuern zu senken, ohne die Tragfähigkeit der Staatsschulden oder den Zugang zu den Kapitalmärkten zu gefährden.Kluge Schulden nimmt ein Staat demnach auf, wenn diese zum einen antizyklisch sind – ein klassisches neokeynesianisches Kriterium. Weitere Bedingungen sind zu erwartende positive Folgen für Wachstum und “Inklusivität”, die auf verteilungspolitische Effekte abzielt. Kampf gegen UngleichheitSo könnten Ausgabenprogramme einerseits Investitionen beflügeln und über höhere Einkommen den Privatkonsum beflügeln. Würden diese Projekte zudem das Ziel haben, beispielsweise Aus- und Fortbildung sowie Umschulungsprogramme zu fördern, könnten sie auch konkret zur Verringerung sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit beitragen. Diesen Aspekt hält der IWF im aktuellen politischen Umfeld deswegen für besonders relevant, weil das Einkommens- und Wohlstandsgefälle maßgeblich zu dem Aufschrei gegen Globalisierung beigetragen hat und somit Populisten wie US-Präsident Donald Trump den Weg an die Macht bereitet hat.Die Implikationen sind klar und haben bereits in konkreten, differenzierten Empfehlungen des Währungsfonds im WEO sowie in den bilateralen Artikel-4-Konsultationen ihren Niederschlag gefunden. Demnach wären auch einige der EU-Länder gut beraten, künftig eine “expansive Fiskalpolitik” zu verfolgen. Über den großzügigsten fiskalpolitischen Spielraum verfügen demnach Deutschland und die Niederlande.Die USA hingegen sollten sich nach Ansicht des IWF angesichts der hohen Gesamtverschuldung und des intakten Aufschwungs zurückhalten, und China sollte wegen des robusten Arbeitsmarkts und der Erwartung steigender Inflation auf fiskalische Expansion verzichten. Das alles sind Empfehlungen, die differenziert und im gesamtwirtschaftlichen Kontext sinnvoll erscheinen – deren Umsetzung aber wie immer von den einzelnen Staaten abhängt.