IM BLICKFELD

Japans Schuldenbombe ohne Zündschnur

Von Martin Fritz, Tokio Börsen-Zeitung, 28.4.2020 Als Folge der Coronakrise wird der höchste Schuldenberg der Welt noch schneller wachsen: Denn die Ausgaben von 25,7 Bill. Yen (222 Mrd. Euro) gegen die Coronarezession im Nachtragshaushalt, der am...

Japans Schuldenbombe ohne Zündschnur

Von Martin Fritz, TokioAls Folge der Coronakrise wird der höchste Schuldenberg der Welt noch schneller wachsen: Denn die Ausgaben von 25,7 Bill. Yen (222 Mrd. Euro) gegen die Coronarezession im Nachtragshaushalt, der am Freitag in Kraft treten soll, finanziert der japanische Staat komplett über neue Anleihen. Damit steigt die Neuverschuldung im Fiskaljahr 2020 netto auf 43,3 Bill. Yen (373 Mrd. Euro). 38 % der Gesamtausgaben werden nun auf Pump finanziert, wenn man die Rückzahlung von Altschulden herausrechnet. Das zu erwartende Sinken der Steuereinnahmen wird noch neue Haushaltslöcher öffnen.Damit hat die Pandemie für Japans Staatsfinanzen zwei gravierende Folgen: Erstens springt das primäre Haushaltsdefizit, also ohne Schuldendienst, laut Prognose von J.P. Morgan von 3,3 % im Vorjahr auf 9,3 % des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Zweitens wird die Quote aus Schulden und BIP, die dem japanischen Finanzministerium zufolge zuletzt bei 238 % lag, nach längerer Pause wieder deutlich steigen und in luftige Rekordhöhen klettern. Der Schuldenberg wuchs zwar von 2014 bis 2019 um 8,9 % auf 1 328,5 Bill. Yen (11,5 Bill. Euro). Aber dank eines ähnlich kräftigen Wachstums verharrte die Schuldenquote bei 236 bis 238 %. Bei einem angenommenen BIP-Rückgang um 5 % und der obigen Neuverschuldung spränge sie in diesem Jahr jedoch in einem Satz auf 260 %. Einen solchen Wert hat eine Industrienation nicht einmal zu Kriegszeiten erreicht.Droht Japan also der Staatsbankrott, der schon so oft vorhergesagt wurde? Die Antwort lautet vorerst Nein. Denn diese Schuldenbombe kann nicht hochgehen, weil sie keine Zündschnur hat. Der Hauptgrund: Unter Gouverneur Haruhiko Kuroda hat die Bank of Japan (BoJ) seit 2013 Staatsanleihen für bisher 490 Bill. Yen (4,2 Bill. Euro) gekauft. Das entspricht 37 % der Gesamtschulden und fast 50 % aller Staatsanleihen. Damit steht der japanische Staat über die Notenbank quasi bei sich selbst in der Kreide. Japanische Lebensversicherungen und Pensionsfonds halten einen weiteren Teil der Papiere. Diese Besitzer handeln langfristig und verkaufen ihre Anleihen nicht. Anders gesagt: Es gibt kaum noch jemanden, der aus Angst vor einem Wertverlust seine Japanese Government Bonds (JGBs) loswerden möchte.Zugleich steht die BoJ als Käufer für die “Corona-Anleihen” und weitere Verschuldung bereit. Am Montag beschloss die Zentralbank, ihre bisherige Jahresobergrenze für Staatsanleihekäufe von 80 Bill. Yen (690 Mrd. Euro) zu streichen. Dieser Erwerb läuft übrigens über den Finanzmarkt, um den Eindruck zu vermeiden, dass die Notenbank den Staatshaushalt finanziert. Aber de facto ist das Ergebnis das gleiche. “In Japan wird die Koordinierung zwischen Geld- und Fiskalpolitik ein neues Niveau erreichen”, kommentiert Martin Schulz, Chefökonom der Market Intelligence bei Fujitsu, den Schritt. Allerdings handelt es sich beim Wegfall des Limits eher um einen symbolischen Schritt. Denn seit September 2016 reguliert die Zentralbank über gezielte Anleihekäufe die Zinskurve so, dass der zehnjährige JGB nahe 0,0 % Rendite steht. Dabei kauft sie unterschiedliche Mengen von Schuldpapieren mit verschiedenen Laufzeiten. “Die Geldpolitik flankiert die Neuausgabe der Staatsanleihen, indem sie dafür sorgt, dass die Zinsen nicht steigen”, erläutert der Ökonom und Direktor des Deutschen Instituts für Japanstudien, Franz Waldenberger.Die japanische Methode der Geldpolitik hat den Vorteil, dass sich die Zinskurve durch relativ geringe Kaufvolumina steuern lässt. Seit der Einführung vor dreieinhalb Jahren wächst die Bilanzsumme der BoJ daher langsamer. Dies hält die Bankführung für notwendig, weil ihre Vermögenswerte die Wirtschaftsleistung bereits überschritten haben. De facto ermöglicht die BoJ es dem Staat auf diese Weise, sich trotz des steigenden Anleiheangebots weiter Geld zum Nulltarif zu beschaffen. Tatsächlich machen die Zinszahlungen von 8,2 Bill. Yen (71 Mrd. Euro) nur 8 % des Staatshaushalts 2020 aus. Bezogen auf die Gesamtmenge an Staatsanleihen ergibt sich ein Durchschnittszinssatz von nur 0,85 % mit fallender Tendenz. Dazu betonen manche Analysten, dass der Staat auch noch seine Vermögenswerte von fast 85 % des BIP verkaufen könnte. Abzüglich der BoJ-Aufkäufe läge die Verschuldungsquote dann nur bei etwas mehr als 70 %.Aber das staatliche Finanzgebaren bleibt dubios: Das offizielle Versprechen, bis 2025 einen ausgeglichenen Primärhaushalt vorzulegen, lässt sich nicht mehr einhalten. Mit dieser Aussicht wird es noch unwahrscheinlicher, dass Japan seine Schulden jemals zurückzahlt. Ohnehin weiß jeder mit Japan befasste Ökonom schon lange, dass allein aus demografischen Gründen der Haushalt defizitär bleiben dürfte. Der Anteil der über 65-jährigen Japaner wird nämlich bis 2040 von heute 28 % auf 40 % zunehmen. Gleichzeitig schrumpft die Bevölkerung von 126 Millionen auf 111 Millionen Menschen. “Durch die alternde Gesellschaft wandert die Nachfrage nach Leistungen wie Pflege, Gesundheit und Renten auf die staatliche Seite und wird dann mit Hilfe der Niedrigzinsen über die Zentralbank finanziert”, erläutert Schulz das japanische Modell, das zudem die Inflation eingrenzt.