Jeremania in Nimmerland
Von allen Stars, die sich dieses Jahr auf dem Glastonbury Festival feiern ließen, hat Jeremy Corbyn (68) den tiefsten Eindruck hinterlassen. Der Labour-Führer hat – wie Che Guevara – das Potenzial, zu einer Ikone der Popkultur zu werden. Auf dem Festival trat er im blauen Fischerhemd als Opener für das Hip-Hop-Duo Run the Jewels auf. Killer Mike, einer der beiden, hatte in den Vereinigten Staaten vergangenes Jahr Bernie Sanders unterstützt, nun ist Corbyn an der Reihe. Im britischen Wahlkampf hatte sich bereits eine Reihe heimischer Rapper hinter Corbyn gestellt.Schon vor seinem Auftritt war die Menge immer wieder in “Ooooh, Jeremy Corbyn”-Gesänge ausgebrochen – zur Melodie der auch in Deutschland gut bekannten Fußballhooligan-Hymne “Seven Nation Army” von den White Stripes. “Jezza”, wie seine Fans ihr Idol liebevoll nennen, lieferte einen messianischen Auftritt. Bergpredigt pur: “Wir sollten im Leben der Maxime folgen, dass jeder, den wir treffen, einzigartig ist. Jeder, den wir treffen, weiß etwas, das wir nicht wissen, und ist auf manche Weise etwas anders als wir. Seht sie nicht als Bedrohung, seht sie nicht als Feinde. Seht sie als eine Quelle des Wissens, eine Quelle der Freundschaft, eine Quelle der Inspiration.” Offenheit, Meritokratie, Autonomie und die bereitwillige Akzeptanz von Veränderungen sind Werte, für die sich wohl die meisten Besucher des Festivals von Glastonbury aussprechen würden. Dem britischen Politikwissenschaftler David Goodhart zufolge profitieren von solchen gesellschaftlichen Idealen vor allem diejenigen, die wohlhabend, gut ausgebildet und mobil sind. Wer sich am unteren Ende des Einkommens- und Bildungsspektrums befinde, habe weit weniger davon.Corbyn wies auf die Umzäunung des Festivalgeländes, um eine Botschaft an Donald Trump abzusetzen: Brücken bauen, nicht Mauern. Der Wunsch, auch den Zaun entfernen zu wollen, der diejenigen draußen halten soll, die sich den Eintritt nicht leisten können, liegt dem Menschenfischer ebenso fern wie seinem Publikum. Dem geht es vor allem um den Wunsch, als engagiert wahrgenommen zu werden. Man will die eigene, selbstverständlich irgendwie progressive Individualität zum Ausdruck bringen. Andere von etwas überzeugen zu wollen, Politik also, ist dagegen viel zu anstrengend. Das längst ausverkaufte T-Shirt von Bristol Street Wear, das den Namen Corbyn mit einem Nike-Logo darunter zeigt, war in Glastonbury häufiger zu sehen. Mag sein, dass das Swoosh genannte Markenzeichen des weltgrößten Sportartikelanbieters Nike, das 1971 von der Grafikdesignstudentin Carolyn Davidson geschaffen wurde, ironisch verfremdet werden sollte. Die Frage ist jedoch, was diejenigen, die Corbynike tragen, damit ausdrücken wollen. Auch das Logo der nicht ganz so bekannten Marke Champion von Hanesbrands wurde für inoffizielle Corbyn-Fanprodukte verwendet. Der Mann ist zur Marke geworden – wie der kubanische Revolutionär, der sich im Grab umdrehen würde, könnte er sehen, wo sein Konterfei überall benutzt wird. Es geht nicht mehr um Inhalte, es geht um Stil. Was bleibt, ist Reklame. Rot ist die Farbe derjenigen, die engagiert wirken wollen. Der Textildiscounter Topshop wandte sich bereits mit einem “Save the Future”-Shirt an ein Publikum, das über ein weniger ausgeprägtes Differenzierungsbedürfnis als die Neohippies von Glastonbury verfügt, an dem die vermeintlich linke Aufbruchstimmung im Land aber nicht vorbeigegangen ist. Theresa May zierte auch den einen oder anderen Oberkörper, allerdings in Form eines sehr unvorteilhaften Fotos mit der nur schwer übersetzbaren Überschrift “Dead Ting” (etwa: langweiliges Arschloch).Corbyn dürfte sich im Nimmerland von Glastonbury wohl fühlen. Natürlich spricht der Atomwaffengegner lieber vor Gleichgesinnten als auf einer Veranstaltung zum Armed Forces Day. Auf dem Festival sind noch viele andere unterwegs wie Peter Pan. Motto: Bloß nicht erwachsen werden. Man denke nur an Jon Snow (69), den Nachrichtensprecher von Channel 4, der sich hinterher nicht mehr erinnern konnte, ob er mit seinen Fans “F*** the Tories” gegrölt hat. Die Kampagnenplaner des Labour-Vorsitzenden haben Corbyn brillant platziert. Jeremania in Glastonbury war erst der Anfang.