Joe Biden an der Schwelle zur Präsidentschaft
Von Peter De Thier, WashingtonIn genau zweieinhalb Monaten könnte der langjährige Senator und ehemalige Vizepräsident Joseph Robinette (“Joe”) Biden (77) Geschichte schreiben: Sollte es ihm gelingen, am 3. November jene ansehnlichen Vorsprünge, die er in fast allen Wählerumfragen genießt, über die Ziellinie zu retten, dann wäre er am Tag nach der Wahl exakt genauso alt, wie der bisher älteste Präsident, Ronald Reagan, an seinem letzten Tag im Amt war.Dass Biden kein idealer Kandidat ist, und das nicht nur wegen seines fortgeschrittenen Alters, wissen seine Parteifreunde sehr wohl. Gleichwohl ist er der “Elder Statesman”, dem die besten Chancen eingeräumt werden, das ultimative Ziel zu erreichen, nämlich nach vier turbulenten und folgenschweren Jahren Donald Trump zu entthronen.Biden selbst hält sich für einen “ganz normalen Durchschnittstyp”, wird damit seiner Lebensgeschichte und politischen Laufbahn aber nicht annähernd gerecht. Nach einer schwierigen Kindheit finanzierte Biden sein Jura-Studium mit Krediten, arbeitete zunächst als Rechtsanwalt und wurde mit nur 29 einer der jüngsten Senatoren in der US-Geschichte.Ein Jahr danach ereilte den Senator ein tragisches Schicksal, welches den Kandidaten bis heute prägt, als Menschen und als Politiker. Seine Ehefrau und deren einjährige Tochter kamen bei einem Autounfall ums Leben. 43 Jahre später starb dann Sohn Beau, der den Autounfall überlebt hatte, an Gehirnkrebs – der entscheidende Grund, warum Biden es 2016 ablehnte, als Präsidentschaftskandidat anzutreten.Freunde berichten, dass der Politiker, der 1977 die Studentin Jill Tracy Jacobs heiratete, durch die beiden Tragödien zu einem warmherzigen, einfühlsamen und authentischen Menschen wurde, der Charakter und Moral über politischen Ehrgeiz und Karrieredenken stellt. Neben der “Charakterfrage”, welche bei der Wahl eine entscheidende Rolle spielen könnte, zeichnet auch die einzigartige Laufbahn den Karrierepolitiker aus. Illustre SenatskarriereÜber 36 Jahre lang vertrat Biden seine Wahlheimat Delaware in der oberen Kammer des Kongresses, wo er den auswärtigen Ausschuss ebenso wie den Justizausschuss leitete. Er agierte geschickt als Vermittler zwischen seiner eigenen Partei und den Republikanern. Im Senat wäre Biden wohl auch heute noch, hätte ihn Obama nicht 2008 an Bord geholt, um seine Nummer 2 zu sein.Obwohl Trump und die Republikaner deswegen versuchen, Biden zu einem “radikalen Linken” zu stempeln, weil er auch auf die Stimmen der nachrückenden Generation progressiver Demokraten hört, sind seine Positionen fast durchweg moderat. Unter ihm würden die USA wieder dem Pariser Klimaabkommen beitreten. Er würde zudem CO2-Emissionen besteuern und auf Einfuhrzölle als politisches Druckmittel verzichten. Seine Wirtschafts- und Handelspolitik würde sich nicht an dem Postulat “America First” orientieren, sondern auf Integration und Multilateralismus setzen. Biden hat bekräftigt, dass unter ihm die USA bei dem transpazifischen Handelsabkommen TPP wieder an Bord wären und er das revidierte Nafta-Abkommen USMCA unterstützen will.Zudem würde er Wohlhabende stärker zur Kasse bitten und Unternehmenssteuern wieder hochschrauben, allerdings nicht auf jenen Satz, der vor Trumps Reform der höchste aller OECD-Länder war. Mit Investitionen in Infrastruktur und erneuerbare Energien will er die amerikanische Jobmaschine wieder auf Touren bringen und nach eigener Darstellung “sicherstellen, dass wir unseren Kindern einen bewohnbaren Planeten überlassen”.Trotz der illustren Karriere im Senat und acht Jahren als Vizepräsident herrschte Skepsis gegenüber einer Präsidentschaftskandidatur. Zum einen wegen Bidens fortgeschrittenen Alters und der Tatsache, dass er bereits zwei Mal, nämlich 1988 und 2008, als Kandidat gescheitert war. Parteifunktionäre zweifelten zudem an der Strategie, erst spät in den Wahlkampf einzusteigen. Auch bangen sie immer wieder vor peinlichen Gedächtnislücken und Versprechern, die sich aber gegen Trumps verbale Entgleisungen harmlos ausnehmen. Deutlich vor Trump Vieles spricht aber dafür, dass die Demokraten während der Vorwahlen die richtige Entscheidung getroffen haben. In Umfragen liegt Biden so weit vor Trump, dass man in “normalen Zeiten”, in denen ein amtierender Präsident nicht offenkundig versucht, die Wahl zu untergraben, das Ergebnis fast vorwegnehmen könnte. Die Gründe für den Vorsprung liegen auf der Hand. Biden wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, zunächst in Pennsylvania und dann Delaware. Sein Vater verkaufte Gebrauchtwagen, jobbte zudem als Schornsteinfeger und habe seinem Sohn eiserne Disziplin sowie unermüdlichen Fleiß eingeflößt, sagt der Kandidat.Das bedeutet wiederum, dass Biden “dieselbe Sprache spricht” wie die meisten Trump-Wähler und sicher ist, viele von ihnen für sich gewinnen zu können. Inmitten der Pandemie setzt der Kandidat vor allem auf seine Strategie zur Bekämpfung des Coronavirus. Trump hat er wegen dessen Verharmlosung der Krise schonungslos attackiert und einen nationalen Ansatz versprochen, bei dem die Regierung keine Kosten scheuen würde.