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Juncker dreht an der falschen Stellschraube

Börsen-Zeitung, 23.9.2017 Jean-Claude Juncker hat Politik im Blut. Er kann Stimmungen und Entwicklungen spüren wie kein Zweiter. Vor diesem Hintergrund ist auch seine Rede zur Lage der Europäischen Union zu verstehen, in der er Perspektiven für den...

Juncker dreht an der falschen Stellschraube

Jean-Claude Juncker hat Politik im Blut. Er kann Stimmungen und Entwicklungen spüren wie kein Zweiter. Vor diesem Hintergrund ist auch seine Rede zur Lage der Europäischen Union zu verstehen, in der er Perspektiven für den Ausbau der Wirtschafts- und Währungsunion aufzeigte. Er spüre, so Juncker, “neuen und frischen Wind in den Segeln der EU”. Dies ist wahr: Vor allem das Brexit-Chaos, das die Euroskeptiker auf der Insel anrichten, hat für die anderen EU-Staaten eine heilende Wirkung. Die Versprechen der Brexiteers haben sich ausnahmslos als unhaltbar herausgestellt. Die meisten Briten würden gerne im Binnenmarkt verbleiben und selbst der eigentlich euroskeptische Umweltminister sieht die EU auf einmal als eine wichtige Quelle verlässlicher Regeln – zumindest im Bereich des Umweltschutzes. Lehren aus GriechenlandAuch die “America first”-Politik des US-Präsidenten Trump bringt Europa enger zusammen. Die EU ist handelspolitisch ein Riese, wie es Henry Kissinger einmal treffend formulierte: Mit dem sollte sich auch der neue Protektionist im Weißen Haus nicht anlegen. Die Stärke Europas zeigt sich in den letzten Monaten auch im steigenden Außenwert des Euro, gerade gegenüber dem Dollar und dem britischen Pfund. Vor diesem Hintergrund legt Juncker nun seine Überlegungen offen, wie konkret denn ein “mehr Europa” aussehen könnte und welche ordnungspolitischen Weichen zu stellen wären.Kernpunkt seines Vorschlags ist die schnellstmögliche Erweiterung der Währungsunion um die Staaten Osteuropas. Ob Juncker damit aber die richtige Stellschraube ausgesucht hat, muss bezweifelt werden. Wenn es eine Lehre aus der Finanz- und Staatskrise in Griechenland gibt, dann ist es die, dass ein Land wirklich nur in die Währungsunion aufgenommen werden sollte, wenn es die wirtschaftlichen Konvergenzkriterien erfüllt. Ob es den Griechen heute besser ginge, wenn sie noch die Drachme hätten, ist letztlich weder theoretisch noch empirisch eindeutig zu klären. Allerdings ist praktisch kaum möglich, in einem Land wie Griechenland eine Währungsreform durchzuführen und eine neue Weichwährung einzuführen. Kein Grieche wäre bereit, seine harten Euros gegen eine potenzielle Inflationswährung zu tauschen.Es gibt historisch keinen einzigen Fall einer Währungsreform, bei der eine erfolgreiche Hartwährung gegen eine unkalkulierbare Weichwährung getauscht worden wäre. Die ordnungspolitische Schlussfolgerung ist klar: Die Konvergenzprüfung muss hart und in dem Bewusstsein geführt werden, dass sich das neue Mitglied dauerhaft als belastbar und vertrauenswürdig erweisen wird.Betrachtet man die osteuropäischen Länder zunächst rein ökonomisch, so zeigt sich, dass einige Länder durchaus Beitrittspotenzial hätten. Überraschend positiv ist dabei die Entwicklung in Rumänien und Bulgarien, die mit großem Reformeifer die Entwicklungslücke zu Europa schließen wollen und die politisch für eine Einführung des Euro sind. Auch im Urlaubsland Kroatien gibt es viele Befürworter des Euro. Allerdings sind in allen Ländern die wirtschaftlichen Daten noch nicht ausreichend, um eine Neuaufnahme zu befürworten. Vor allem Ungarn hat über viele Jahre fast alle Konvergenzkriterien verfehlt und könnte eine ernsthafte Prüfung nicht bestehen.Die Deutsche Bundesbank hat unlängst eine Studie vorgelegt über die Rolle des Euro als Nebenwährung in Osteuropa. Es zeigte sich dabei, dass der Euro vor allem in den Tourismusgebieten längst als Parallelwährung etabliert ist. Zudem ist der Euro dominantes Zahlungsmittel in der Schattenwirtschaft. Es kann empirisch von einer fortschreitenden “Eurorisierung” des Wirtschaftsraums gesprochen werden, so wie es früher eine “Dollarisierung” Lateinamerikas gab und teilweise heute noch gibt. Mit der zunehmenden Verbreitung des Euros ergibt sich aber ein interessantes Paradoxon: Die Länder sind eigentlich wirtschaftlich zu schwach, um den Euro einzuführen, der sich jedoch quasi von unten spontan selbst einführt. Warum die Eile?Neben die wirtschaftliche Schwäche tritt aber zunehmend auch eine politische Unberechenbarkeit einiger osteuropäischer Länder. Gerade die nationalkonservativen Regierungen in Polen und Ungarn haben massiv an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Zudem stellte die polnische Regierung mehrfach die Idee der Notenbankunabhängigkeit in Frage: Diese ist jedoch das Fundament der Währungsunion und des Euro und als solche nicht verhandelbar. Über technische Details und Nachkommastellen der Konvergenzprüfung kann man streiten, über die Grundfrage einer politisch unabhängigen Zentralbank aber nicht. Überhaupt ist zu fragen, warum auf einmal eine solche Eile in die Währungspolitik getragen werden soll? Der Euro ist ohne Zweifel in den 15 Jahren seiner Existenz eine Erfolgsgeschichte geworden, und zwar bezüglich seines Binnenwertes und auch bezüglich des Außenwertes. Dieser ist zwar eigentlich nicht Teil des Mandats der EZB, aber als Gradmesser für die internationale Wertschätzung an den Finanzmärkten hilfreich. Es ist ein Privileg, zur Eurozone zu gehören: Und wer sich nicht an die Spielregeln halten will, sollte draußen bleiben.Von Max Weber stammt der berühmte Satz, erfolgreiche Politik müsse “mit Leidenschaft und Augenmaß” vorgehen. Dies gilt für die Währungsunion mehr denn je. Mit Leidenschaft für das europäische Projekt und den Euro zu kämpfen, ist ohne Zweifel verdienstvoll. Zugleich muss die Erweiterungspolitik jedoch mit Realitätssinn und Augenmaß geführt werden. Einige der osteuropäischen EU-Mitglieder sind derzeit weder beitrittswillig noch sind sie beitrittsfähig.—-Prof. Dr. Dirk Wentzel lehrt Volkswirtschaft und Europäische Wirtschaftsbeziehungen an der Hochschule Pforzheim und ist Inhaber des Jean-Monnet-Lehrstuhls der Europäischen Kommission.In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft.——–Von Dirk WentzelFür die Erweiterung der Eurozone sollte Max Webers Devise gelten: Mit Leidenschaft und Augenmaß.——-