Junckers Abschiedsbotschaften im Europaparlament
Von Andreas Heitker, BrüsselAm Ende seiner Rede hatte Jean-Claude Juncker dann doch noch ein paar Botschaften für die EU-Abgeordneten mitgebracht. Eindringlich warnte er noch einmal vor dem sinkenden Einfluss Europas in der Welt. Dies liege an der demografischen Entwicklung: Anfang des 20. Jahrhunderts seien noch 20 % der Weltbevölkerung Europäer gewesen. Am Ende dieses Jahrhunderts würden es nur noch 4 % sein. “Wir werden wirtschaftlich massiv an Kraft einbüßen”, prognostizierte der EU-Kommissionspräsident gestern in Straßburg. In einigen Jahren werde es wohl kein europäisches Land mehr in der G7 geben.Dies sei eine nicht umkehrbare Entwicklung, ist sich Juncker sicher. Und wer vor diesem Hintergrund denke, jetzt sei der Moment gekommen, um weniger Europa auf die Tagesordnung zu setzen und es wieder in nationale Einzelteile zurückzusetzen, “der irrt fundamental”. Europa bedeute Frieden. Europa bedeute aber auch Stärke angesichts dieses sinkenden globalen Einflusses, gibt der Luxemburger den Abgeordneten mit auf den Weg.Was dies für die künftige EU-Politik bedeuten sollte? Zum einen weiter auf die positiven Effekte von Freihandelsverträgen zu setzen. Seine EU-Kommission habe in den letzten fünf Jahren Handelsabkommen mit 15 Ländern abgeschlossen, sagt Juncker. “Dies hilft uns, auf der Weltbühne präsent zu bleiben – gerade wenn die USA sich vom Multilateralismus abwenden.”Und zum anderen geht es nach Ansicht des 64-Jährigen darum, belastbarere Entscheidungsprozesse in der EU-Außenpolitik zu finden. In vielen Fragen solle künftig mit qualifizierter Mehrheit und nicht mehr nur einstimmig entschieden werden. Nicht immer, “aber dort, wo es darauf ankommt, dass Europa Farbe bekennt”. Die 105. ParlamentsredeJuncker, der die EU-Politik seit rund drei Jahrzehnten mitbestimmt hat – als Finanzminister, als Ministerpräsident, als Eurogruppen-Vorsitzender und jetzt zuletzt als EU-Kommissionspräsident – ist auf Abschiedstournee. Seine gestrige Rede vor dem Plenum des EU-Parlaments – “dem schlagenden Herz der europäischen Demokratie”, wie er sagt – war seine 105. und wohl seine letzte. Der EU-Gipfel in der vergangenen Woche war sein 147. und letzter. Auf der Abschlusspressekonferenz konnte sich auch Juncker ein paar Tränen nicht verdrücken. Wann der Sohn eines Stahlarbeiters, der nach seinem Jurastudium gleich in die Politik ging, sein jetziges Amt abgeben kann, ist noch unklar. Es hängt davon ab, wann seine Nachfolgerin Ursula von der Leyen ihr Team zusammen hat und dieses ein positives Votum vom EU-Parlament bekommen hat. Vielleicht ist es am 1. Dezember so weit. Vielleicht auch erst am 1. Januar. Juncker sagt auf jeden Fall, von der Leyen sei “die Frau, die wir brauchen an der Kommissionsspitze”.Seine eigenen fünf Jahre an der Spitze der Brüsseler Behörde beurteilt Juncker weitgehend positiv: Er verweist darauf, dass sich seine “politische Kommission” wie versprochen auf das Wesentliche konzentriert habe. 84 % weniger Gesetzesinitiativen als von der Vorgänger-Kommission unter Führung des Portugiesen José Manuel Barroso seien angestoßen worden. 142 Rechtsakte seien zurückgezogen worden. Auch wirtschaftlich stehe die EU heute viel besser da als noch 2014: Rund 14 Millionen neuer Jobs seien unter seiner Ägide geschaffen worden, betont Juncker.Die Beschäftigungsquote liege in der EU auf Rekordniveau. Die Union habe mittlerweile 25 aufeinanderfolgende Quartale Wachstum verzeichnet. Verschuldung und Haushaltsdefizite seien deutlich gesunken. Dies führt Juncker auch darauf zurück, dass seine Kommission den Stabilitäts- und Wachstumspakt auch gegen den Widerstand einiger Mitgliedstaaten mit einer stärkeren Flexibilität versehen hat.Und auch bei den Investitionen sei die EU wieder auf dem richtigen Weg: Der Europäische Fonds für strategische Investitionen (EFSI) – der sogenannte “Juncker-Plan” – soll das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Union um 0,9 % gesteigert haben und nach aktuellem Stand 439 Mrd. Euro an zusätzlichen Investitionen mobilisiert haben. 70 % dieser Mittel stammen aus der Privatwirtschaft. Auf der Habenseite sieht Juncker auch die stärkere Implementierung sozialer Grundrechte und den Verbleib Griechenlands in der Eurozone. Viele Staats- und Regierungschefs hätten ihm gesagt, er solle sich bei dem Thema heraushalten, betont der Luxemburger. Aber er habe darauf bestanden, die EU-Verträge zu respektieren. “Wir haben dem edlen griechischen Volk die Würde zurückgegeben, die es verdient.” Negativ: Zypern, Schweiz, EdisDen Brexit erwähnte Juncker in seiner Abschiedsrede nicht mehr. Als negative Punkte seiner Amtszeit zählte er dagegen auf, dass die Wiedervereinigung Zyperns und ein Abkommen mit der Schweiz sowie die Vollendung der Bankenunion nicht gelungen seien. Ohne eine europäische Einlagensicherung (Edis) könnten weder Banken- noch Währungsunion funktionieren.Die EU-Abgeordneten zogen gestern eine gemischte Bilanz des Wirkens von Juncker an der Kommissionsspitze. Manfred Weber, der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei (EVP), zu der auch Juncker gehört, betonte, die EU stehe heute besser da als vor fünf Jahren. Juncker habe der Europa-Idee neues Leben eingehaucht. Die Fraktionschefin der Sozialdemokraten, Iratxe García Pérez, monierte dagegen, der versprochene Neuanfang sei auf halbem Weg stecken geblieben. Nach Ansicht von Jens Geier, Chef der deutschen SPD-Abgeordneten, hat Juncker vor allem im Bereich der Sozialpolitik nicht geliefert. Auch der Grüne Sven Giegold sprach von Licht und Schatten. Trotz Junckers Vergangenheit als Luxemburger Regierungschef habe es Fortschritte in der Steuerpolitik gegeben, ebenso beim Thema Lobbytransparenz. Mit der Schaffung der europäischen Arbeitsbehörde habe Juncker Europa ein Stück sozialer gemacht, wie auch mit der Entsenderichtlinie, so Giegold. Junckers soziale Säule bleibe aber insgesamt unverbindlich schwach.Von der rechten Fraktion “Identität und Demokratie (ID)” kam scharfe Kritik. Fraktionschef Marco Zanni monierte, die Juncker-Kommission habe sowohl in der Migrationsfrage als auch in der Sicherheits- und Wirtschaftspolitik Fehler wiederholt und falsche Antworten geliefert. “Dies war wahrscheinlich die schlimmste Kommission der letzten 50 Jahre.” Juncker selbst ließen die Angriffe kalt. “Bekämpft mit aller Kraft den dummen Nationalismus”, rief er zum Ende seiner letzten Rede im EU-Parlament. “Es lebe Europa.”