Jürgen Stark 65
Von Mark Schrörs, Frankfurt”Ich bereue nichts, und ich vermisse nichts.” Wenn Jürgen Stark heute über seinen Rücktritt als Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank (EZB) zum Jahresende 2011 spricht, ist ihm die Erleichterung anzumerken. Schon im Mai 2010 – nach der ersten, umstrittenen Entscheidung der EZB, Staatsanleihen einzelner kriselnder Euro-Länder aufzukaufen – habe er zurücktreten wollen, sich dann aber überreden lassen weiterzumachen, erzählt er. So blieb er noch mehr als eineinhalb Jahre bei der EZB – ohne den Kurs aus seiner Sicht noch wesentlich zum Besseren beeinflussen zu können. Heute nennt er diese Zeit eine “lange Frustrationsphase”, seine “Leidenszeit”. Widerspruch blieb ungehört”Letztlich war es die Alternative zwischen Abwanderung und Widerspruch”, sagt Stark, der am Freitag 65 Jahre wird, in Anlehnung an eine Theorie des deutschen Ökonomen und Politologen Albert Hirschman. Nach der ersten Entscheidung war bei ihm noch ein wenig Hoffnung vorhanden, in der Umsetzung des Aufkaufbeschlusses noch Schlimmeres zu verhindern. Letztlich aber musste er sich eingestehen, dass sein “Widerspruch” nicht mehr gehört wurde – so blieb am Ende nur die “Abwanderung”.Als die Nachricht am 9. September 2011 die Runde machte, reagierten die Finanzmärkte weltweit aufgeregt: Der Euro verlor deutlich, die Börsen gingen auf Talfahrt. Stark galt vielen als Garant eines stabilen Euro – ganz der Bundesbank-Tradition verbunden. Zur Aufregung trug bei, dass kurz zuvor auch Axel Weber im Streit um den EZB-Kurs als Bundesbankchef zurückgetreten war.Bei Starks Rücktritt war zunächst nur von “persönlichen Gründen” die Rede. Schnell aber wurde klar, dass es der Unmut über den Kurs der Euro-Rettung war, der ihn zurücktreten ließ – letztlich allem voran der im August 2011 gefasste EZB-Beschluss, auch Papiere von Italien und Spanien zu kaufen. Im Dezember 2011 sagte Stark in einem Interview zum Grund seines freiwilligen Ausscheidens: “Dass ich nicht zufrieden bin, wie sich diese Währungsunion entwickelt hat. Punkt!”Er, der als Staatssekretär im Bundesfinanzministerium Ende der neunziger Jahre maßgeblich an der Euro-Einführung beteiligt war, der ab 1998 als Notenbanker erst bei der Bundesbank, später bei der EZB eng mit der neuen Währung verbunden war – er konnte und wollte nicht mehr mittragen, wie sich die Dinge in der Euro-Krise entwickelten.Im Januar 2012 legte er in einem Abschiedsbrief an die EZB-Beschäftigen nach. Er warf seinen Ex-Kollegen im EZB-Rat vor, Entscheidungen getroffen zu haben, “die das Mandat der EZB ins Extreme gedehnt haben”. Er bezeichnete es als eine “Illusion zu glauben, dass die Geldpolitik große strukturelle und fiskalische Probleme in der Euro-Zone lösen kann”. Die Geschichte habe gezeigt, dass immer dann, wenn eine Notenbank unter “fiskalischer Dominanz” agiert habe, sie Zugeständnisse bei der Aufgabe, den Geldwert stabil zu halten, habe machen müssen.In die gleiche Kerbe schlägt Stark auch seitdem regelmäßig. Immer wieder schreibt er Gastbeiträge oder gibt Interviews, häufig wird er zu Diskussionsveranstaltungen oder Vorträgen eingeladen. “Die Menschen sind extrem verunsichert und wollen wissen, wie es mit dem Euro und Europa weitergeht. Da gibt es ein Vakuum, das die Politik nicht ausfüllt”, sagt Stark. Der frühere “Sherpa” von Altkanzler Helmut Kohl für Weltwirtschaftsgipfel vermisst eine offene Diskussion über die Euro-Rettung, ihre Folgen, ihre Risiken.Bei seinen Einwürfen spart er auch nicht mit harschen Worten – schon immer galt Stark als Freund klarer, teils auch scharfer Worte. So warf er der EZB und den anderen westlichen Zentralbankern Anfang März dieses Jahres vor, sich “infolge politischen Drucks oder durch Arroganz und Selbstüberschätzung auf Abwege” begeben zu haben. Sie seien nicht nur “Getriebene der Politik und der Märkte”, sondern seien selbst dem “Rausch ihres Erfolgs” erlegen und bürdeten sich immer mehr auf.Für Stark hat die EZB die Grenze zur monetären Staatsfinanzierung, die ihr verboten ist, überschritten. Er fürchtet auch, dass die Politik des billigen Geldes in den westlichen Ländern die Grundlage für neue Blasen an den Finanzmärkten und mittelfristig für Inflation legt. Selbst hohe Inflationsraten wie in den siebziger Jahren hält Stark für möglich.Kritiker warfen ihm zu EZB-Zeiten und werfen ihm auch heute noch vor, dass er zu starr auf den Grundsätzen deutscher Ordnungspolitik beharre und zu dogmatisch sei. Die EZB habe de facto keine andere Option gehabt, als pragmatisch einzuspringen – sonst würde es den Euro vielleicht gar nicht mehr geben. Zudem sei es bequem, immer zu kritisieren. Es sei aber schwieriger, wirkliche Alternativen vorzuschlagen. Für “mehr Europa”Stark selbst sieht es aber gerade als Problem, dass Regeln, etwa die des Stabilitätspakts, nie eingehalten wurden. Und im Gespräch weist er auch den Vorwurf kategorisch zurück, nicht zu sagen, was er eigentlich wolle. Er sieht aber vor allem die Staaten in der Pflicht, für Reformen und Konsolidierung zu sorgen. Er ist, wie er sagt, durchaus für “mehr Europa”, für eine “politische Union”, wie sie schon in den neunziger Jahren das Ziel war. Er zweifelt aber, ob die Staaten bereit sind, die nötige Souveränität abzugeben. Vor allem aber brauche es eine breite demokratische Debatte darüber, sagt Stark, der heute Kunden in Europafragen berät, Seminare an der Uni Tübingen gibt und unter anderem als Botschafter der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft tätig ist.Einige monieren auch, dass Stark bis Ende 2011 viele umstrittene Entscheidungen der EZB selbst mitgetragen habe. Stark verweist dabei darauf, dass er intern immer seine Kritik geäußert und auf Gefahren hingewiesen habe. Als Mitglied des EZB-Direktoriums habe er seine Bedenken aber nicht immer so offen formulieren können, wie er es sich manchmal gewünscht hätte.Auch deswegen sagt er heute, es wäre doch besser gewesen, im Mai 2010 zurückzutreten. Im August 2011 hätte er dann aber zumindest direkt zurücktreten sollen. Aus Loyalität zur EZB und zur Bundesregierung habe er aber nicht überstürzt abdanken wollen. Dies beides zumindest bereut er heute dann doch.