STREIT ÜBER EZB-POLITIK - IM INTERVIEW: HELMUT SIEKMANN

"Keine Freistellung von gerichtlicher Kontrolle"

Staatsrechtler sieht Grenzen für EZB-Unabhängigkeit

"Keine Freistellung von gerichtlicher Kontrolle"

Helmut Siekmann ist Staatsrechtler und Volkswirt. Am Frankfurter Institute for Monetary and Financial Stability (IMFS) hat er einen Lehrstuhl für Notenbankrecht inne.- Herr Professor Siekmann, der Generalanwalt des EuGH widerspricht in vielen dem, was das Bundesverfassungsgericht in seinem Vorlagebeschluss erklärt hat. Ist das ein Affront gegenüber Karlsruhe?Es war kaum zu erwarten, dass er zu der Einschätzung kommen würde, dass das OMT-Programm die Kompetenzen der EZB überschreitet oder gegen sonstige Vorschriften des EU-Rechts verstößt. Ich finde aber sehr wohl, dass er mancher Argumentationslinie des Bundesverfassungsgerichts folgt, etwa in der Frage, dass eine gerichtliche Prüfung des OMT-Beschlusses, auch ohne weitere rechtliche Ausformung oder tatsächliche Umsetzung, möglich sein müsse. Er nimmt auch die Bedenken von Karlsruhe im Hinblick auf die Eingriffe in die Preisbildung am Markt für Staatsanleihen auf.- Aber anders als das Bundesverfassungsgericht sieht er in OMT ein währungspolitisches Instrument und keine Wirtschaftspolitik – und gibt in dem Zusammenhang sogar de facto grünes Licht für den selektiven Kauf von Staatsanleihen. Und bis auf die Frage der Preisbildung greift er die “Bedingungen”, die Karlsruhe vorformuliert hat, um einen Verstoß gegen das Verbot monetärer Staatsfinanzierung zu verhindern, nicht auf.Es war absehbar, dass er die Anregungen des Bundesverfassungsgerichts zu einer unionsrechtskonformen Auslegung des OMT-Programms nicht 1:1 übernehmen würde. Die Frage der Selektivität sehe ich in der Tat sehr kritisch, weil das meines Erachtens dem Charakter eines geldpolitisch motivierten Instruments widerspricht. Aber der Generalanwalt pocht beispielsweise auch auf “hinreichende Garantien”, dass das Verbot der Staatsfinanzierung nicht umgangen wird. Er verpflichtet die EZB zudem, die “außergewöhnlichen Umstände” zur Rechtfertigung des Programms klar und genau darzulegen.- Eine “konstitutionelle Krise”, also einen Konflikt zwischen Luxemburg und Karlsruhe, befürchten Sie demnach nicht.Nein, einen offenen und klaren Konflikt sehe ich nicht. Der Generalanwalt geht auf Bedenken des Bundesverfassungsgerichts ein. Das eröffnet dem Verfassungsgericht meines Erachtens durchaus die Möglichkeit, beim Urteil sein Gesicht zu wahren, ohne eine solche Konfrontation heraufzubeschwören. Zu Recht hat der Generalanwalt an verschiedenen Stellen die Pflicht zu einer “loyalen Zusammenarbeit” betont und diese Pflicht auch auf den EuGH erstreckt.- Die große Frage ist ja letztlich, wer am Ende das letzte Wort hat.Das ist in der Tat die entscheidende Frage. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass das Gericht der übergeordneten Ebene, also der EU, das letzte Wort haben sollte, wenn es um EU-Recht geht. Sonst besteht die Gefahr divergierender Auslegungen derselben Rechtsnormen. Sich widersprechende Gerichtsentscheidungen und eine Schwächung des EU-Rechts wären wohl die Folge. Das Bundesverfassungsgericht hat aber sehr klargemacht, dass es zumindest da, wo die deutsche Verfassungsidentität betroffen ist, sich das letzte Wort vorbehält. Dieser Konflikt ist grundsätzlich schwer aufzulösen, sollte aber im Rahmen der gebotenen Loyalität zu bewältigen sein.- Sollte es bei OMT doch dazu kommen, dass Karlsruhe auf seiner Position beharrt – was bedeutete das für die Integration in Europa?Das wäre sicher nicht gleich das Ende der Integration, aber es würde vieles sehr viel schwerer machen. Ich vertraue aber auf die Vernunft aller Beteiligten. Die europäische Integration ist ein großer Erfolg.- Was hieße ein solcher Konflikt für die Bundesbank? Dürfte sie sich überhaupt an OMT beteiligen?Das ist in der Tat eine wichtige Frage, die schwer mit wenigen Worten pauschal zu beantworten ist. Grundsätzlich ist die Bundesbank Teil der Exekutive in Deutschland, auch wenn sie einen Sonderstatus hat. Sie ist damit an deutsches Recht und dessen Auslegung gebunden. Sie darf nicht an verfassungswidrigen Handlungen mitwirken. Andererseits ist der Bundesbankpräsident, aktuell also Jens Weidmann, kraft seines Amtes Mitglied im EZB-Rat, also einer europäischen Institution, für die andere Maßstäbe gelten können. Die Bundesbank müsste als Teil des Eurosystems Weisungen der EZB befolgen und auf Verlangen den Erwerb von Anleihen durchführen, auch wenn das Bundesverfassungsgericht ihn für verfassungswidrig hält. Zur Durchsetzung dieser Verpflichtung ist ein spezielles Verfahren vor dem EuGH vorgesehen. Eine Verurteilung der Bundesbank in diesem Verfahrung zu einer Handlung, die als verfassungswidrig beurteilt worden ist, wäre europarechtlich zulässig, würde aber ebenfalls eine Konfrontation bedeuten.- Der Generalanwalt räumt der EZB sehr großen Ermessensspielraum ein und mahnt die Gerichte bei der Kontrolle zu “einem erheblichen Maß an Zurückhaltung”. Stellt er der EZB damit nicht quasi eine Art Freibrief aus?Diese Wendung kann in der Tat als breites Einfallstor zur Schaffung kontrollfreier Räume für die EZB verstanden werden. Die Unabhängigkeit, die ihr europarechtlich und verfassungsrechtlich umfassend eingeräumt worden ist, darf keine Freistellung von gerichtlicher Kontrolle bedeuten. Die EZB ist an das Recht gebunden, und die Einhaltung dieser Bindung muss überprüft werden können. Aber auch auf nationaler Ebene hat das Verfassungsgericht spezialisierten Akteuren mitunter viel Freiraum eingeräumt. Wenn es das als nötig ansah, hat es dennoch eine strikte Kontrolle ausgeübt. Allein die speziellen Kenntnisse und Erfahrungen sind kein hinreichendes Argument für Ausnahmen von gerichtlicher und demokratischer Kontrolle. Das Demokratieprinzip und die Gewaltenbalance verlangen eine klare Begrenzung der zu erfüllenden Aufgaben.- Und was bedeuten die Schlussanträge für den breiten Staatsanleihekauf? Die EZB steuert auf ein solches Quantitative Easing (QE) zu, ein Beschluss könnte bereits am 22. Januar fallen.Grundsätzlich halte ich ein QE der EZB aus ökonomischen und juristischen Gründen für angreifbar. Das Eurosystem ist nicht das Fed-System, in dem die US-Notenbank sichere Bundesanleihen und/oder vom Bund garantierte Papiere kaufen konnte. QE und OMT sind unterschiedlich konzipiert. Bei QE geht es nicht um Hilfe für einzelne Staaten oder “irrationale” Übertreibungen von Märkten. Allerdings dürfte es auch um QE wieder juristische Auseinandersetzungen geben. Sehr bedenklich fände ich es, wenn im Rahmen von QE selektiv oder bevorzugt Titel bestimmter Staaten gekauft würden.—-Das Interview führte Mark Schrörs.