Konsumlos glücklich
Verstehe einer den japanischen Homo oeconomicus! Seit 20 Jahren stagnieren oder fallen die Preise, egal wie viele Wertpapiere die Bank of Japan kauft. Ihr Gouverneur Haruhiko Kuroda erklärt dies mit der “deflationären Mentalität” der Japaner, die keine Geldentwertung mehr kennen. Von wegen: Laut Umfragen erwarten die Haushalte weiter eine langfristige Inflation von jährlich 3 bis 4 %. Und während die Mehrheit der deutschen Erwerbstätigen davon ausgeht, dass ihre Löhne in den nächsten Jahren nominal steigen werden, sagen dies nur 10 % der Japaner für sich vorher. Diese Einstellungen seien weltweit einzigartig, wundert sich die Wirtschaftsprofessorin Sayuri Shirai, die selbst fünf Jahre im Führungsgremium der Notenbank saß.Der bekannte Unternehmensberater Kenichi Ohmae erklärt die Besonderheit damit, dass Japan eine “Gesellschaft mit geringem Verlangen” nach Besitz und Konsum sei. Der japanische Homo oeconomicus wolle nur arbeiten und sparen. Selbst wenn die Japaner Geld hätten, gäben sie es nicht aus, analysiert Ohmae. Vielmehr sicherten sie sich fürs Alter gleich dreifach ab – mit einer Rente, Ersparnissen und einer Lebensversicherung.Am schlimmsten sei die junge Generation, ärgert sich der inzwischen 77-jährige Autor zahlreicher Management-Bücher: “Sie kaufen sich keine Immobilie, und wenn ein Auto, dann nur ein billiges, und heiraten nicht.” Als Grund für dieses Desinteresse am Konsum nennt Ohmae die Furcht vor einem Alter in Armut. Dabei stirbt ein Japaner im Schnitt mit einem Vermögen von 35 Mill. Yen (282 000 Euro) und damit auf dem Höchstpunkt seines Wohlstandes. Als Gegenmittel sollte der Premier die Bürger täglich dazu aufrufen, sich nicht wegen ihres Ruhestandes zu sorgen und stattdessen das Leben zu genießen, schlägt Ohmae vor.Die scheinbar lustlose Betrachtung der eigenen Existenz verwundert mich besonders, weil eine der bekanntesten lebensbejahenden Philosophien aus Japan kommt. Schließlich stellen wir uns alle irgendwann die Frage, wofür wir leben. Wer eine Antwort, einen Lebenssinn – auf Japanisch “Ikigai” genannt – gefunden hat, der steht morgens leichter auf und freut sich über seine Existenz. Arbeit, Familie, Haustier, Hobby, soziales Engagement – der Lebenssinn kann aus verschiedensten Quellen stammen. Die Philosophie hinter “Ikigai” ist jahrhundertealt. Vielleicht zählt sie deshalb längst zu den fernöstlichen Weisheiten, die Manager in Deutschland in Seminaren lernen. *Die japanische Gesellschaft diskutiert das Thema Lebenssinn seit den 1960er Jahren unter zwei Blickwinkeln. Die einen sehen den Lebenssinn eher darin, sich einer Gruppe zugehörig zu fühlen. Die anderen betrachten “Ikigai” als eine individuelle Angelegenheit, die man über Selbstverwirklichung findet. Meiner Meinung nach hat die japanische Gesellschaft eine interessante Balance zwischen diesen Polen gefunden. Die Mehrheit lehnt einen auf die Gruppe bezogenen Lebenssinn wie die Nation oder den Kaiser ab. Anders war das nämlich zwischen 1868 und 1945 gewesen, was in die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges führte.Zugleich erlernen japanische Kinder in erster Linie das Leben in der Gruppe, und ihre eigene Persönlichkeit wird weniger gefördert als in westlichen Ländern. Dennoch leben viele als Jugendliche und Erwachsene ihre Individualität stark aus, indem sie eine Menge Energie und Zeit in eine Aufgabe, ein Sachgebiet oder ein Hobby investieren. Die Bandbreite reicht von besessenen Forschern in Unternehmen und Universitäten bis zu leidenschaftlichen Bergsteigern, Gamern und Sammlern. Bei Interviews sind mir immer wieder Japaner begegnet, die auf einem selbst gewählten Feld viel Engagement und Freude zeigten. Dass sie ihren Lebenssinn gefunden hatten, konnte ich gut spüren.Aus solchen Anekdoten müssten Ökonomen eigentlich den Schluss ziehen, dass viele Japaner offenbar nicht für Besitz und Konsum leben wollen. Wichtiger scheint ihnen das Gefühl der Sicherheit zu sein, was hohe Rücklagen eben gewährleisten. Für Geld- und Fiskalpolitiker sind solche Bürger natürlich ein wahrer Alptraum.