Kraftlos
Wer die gestrige Rede von Jean-Claude Juncker vor dem Europaparlament in Straßburg mit der vergleicht, die der französische Präsident Emmanuel Macron Mitte April an gleicher Stelle gehalten hat, merkt schnell, wie kraft- und visionslos der aktuelle EU-Kommissionschef mittlerweile agiert. Beide sprachen vor den Abgeordneten von ihren Vorstellungen über ein Europa, das seine Bürger schützt. Welche Energie von dieser Gemeinschaft ausgehen kann, war aber nur in Macrons Ausführungen zu spüren. Junckers Mandat läuft erst in gut einem Jahr aus. Es ist gestern aber deutlich geworden, dass der Luxemburger, der so lange schon und lange auch erfolgreich die europäische Politik mitgestaltet, mit seinen Gestaltungsmöglichkeiten am Ende ist.Sicher: Auch Junckers letzte Rede zur Lage der Union enthielt wieder satte 18 Gesetzgebungsvorschläge und Initiativen, die von seiner Brüsseler Behörde dann auch gleich mit viel Papier und bunten Bildern unterfüttert wurden. Viele von ihnen waren allerdings entweder bekannt, beziehungsweise aufgewärmt (Grenzschutzausbau, Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip), überflüssig (Sommerzeit) oder unverständlich (Finanzarchitektur bei Drittlandsinvestitionen). Zukunftsthemen wie die Digitalisierung kamen in der Rede gar nicht vor. Und auch auf Vorzeigeprojekte wie etwa die Kapitalmarkt- oder die Bankenunion ging Juncker gestern nicht ein, obwohl es hier noch immer an allen Ecken und Enden knirscht.Natürlich mischt die aktuelle EU-Kommission in den nächsten Monaten noch beim Thema Brexit kräftig mit und ist auch in den Gesprächen um neue Handelsverträge federführend. Ansonsten hat sie aber offensichtlich ihr Pulver verschossen. Bei den wichtigen Themen in der EU, die bis zur Europawahl im nächsten Mai noch abgeräumt werden sollen, liegt der Ball im Feld des Europaparlaments und der EU-Mitgliedstaaten. Rund die Hälfte der Gesetzesvorschläge, welche die aktuelle Kommission vorgelegt hat, hängt derzeit immer noch in diesen beiden Institutionen fest.Man muss Jean-Claude Juncker zugutehalten, dass er mit seinem Plädoyer für mehr Einigkeit innerhalb der Union und eine stärkere Ausrichtung der EU als Global Player die richtigen Akzente setzt. Auch die Stärkung des Euro auf internationaler Bühne ist ein richtiger Ansatz, um Europa aus der in den vergangenen Monaten so schmerzhaft gespürten Abhängigkeit vom Dollar zu befreien. Nur bräuchte man hierfür auch die viel beschworene Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion. Und wie schwer es ist, selbst bei kleinsten Reformschritten eine Verständigung in der Eurogruppe zu erreichen, ist in jüngster Zeit wieder mehr als deutlich geworden. Beim Thema Migration ist eine Verständigung noch schwerer – obwohl gerade hier eine intensive Zusammenarbeit mehr als sinnvoll wäre.Die EU muss mit einer Stimme sprechen, will sie sich auf internationaler Bühne Gehör verschaffen und Protektionismus und Populismus von wem auch immer etwas entgegenhalten. Doch die Risse innerhalb der Union sind heute unübersehbar. Fast schon symbolisch stimmte das EU-Parlament gestern nur gut zwei Stunden nach dem Ende der Juncker-Rede für die Einleitung eines Rechtsstaatsverfahrens gegen Ungarn. Dies ist konsequent, geht es hier doch um das gemeinsame Wertefundament der EU – doch die Entscheidung zementiert auch noch einmal die Ost-West-Spaltung der Union, die immer mehr zu einem unüberbrückbaren Problem wird. Will die EU wirklich ein gewichtigeres Wort auf internationaler Bühne sprechen und “Weltpolitikfähigkeit” entwickeln, wie Juncker sagt, dann muss sie erst einmal ihren eigenen Zusammenhalt stärken. Dies dürfte zu den prioritären Aufgaben für Junckers Nachfolger gehören.—–Von Andreas HeitkerWill die EU ein größeres Gewicht auf der Weltbühne bekommen, muss sie erst einmal ihren Zusammenhalt stärken und die inneren Spaltungen bekämpfen.—–