WACHWECHSEL IN WESTMINSTER

Kühle Glückwünsche aus Brüssel

Wirtschaft in Sorge vor einem No Deal

Kühle Glückwünsche aus Brüssel

Von Andreas Heitker, BrüsselSo richtig herzlich waren die Glückwünsche wie erwartet nicht, die Boris Johnson gestern aus Brüssel erhielt. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker ließ über eine Sprecherin ausrichten, er wolle mit dem nächsten britischen Premierminister “so gut wie möglich” zusammenarbeiten. Und Junckers Nachfolgerin Ursula von der Leyen ließ wissen, sie freue sich darauf, “eine gute Arbeitsbeziehung” mit Johnson zu haben. Von der Leyen hatte bereits in ihrer Bewerbungsrede im EU-Parlament ihre grundsätzliche Unterstützung für eine weitere Fristverlängerung bekundet. Sie tritt ihr neues Amt als Kommissionspräsidentin allerdings frühestens Anfang November an – und bis dahin ist eine Entscheidung, wie es mit dem Brexit weitergeht, bereits gefallen.Hier sind im Oktober nämlich schon die Staats- und Regierungschefs der EU-27 sowie Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier gefragt. Barnier machte dem Nachfolger von Theresa May gestern noch einmal klar, dass es auch unter seiner Führung keine Neuverhandlung des Austrittsabkommens geben wird. “Wir freuen uns darauf, mit Boris Johnson nach seiner Amtsübernahme konstruktiv zusammenzuarbeiten, um die Ratifizierung des Austrittsabkommens zu erleichtern und um einen geregelten Brexit zu gewährleisten”, schrieb Barnier lapidar auf Twitter. Möglich seien lediglich Änderungen an der politischen Erklärung zu den künftigen Beziehungen. EU-Notfallpläne stehenDamit bleibt Brüssel ganz auf der bisherigen Linie, wonach das getroffene Abkommen nicht noch einmal geöffnet wird. Die EU-27 hat bereits zahlreiche Notfallmaßnahmen verabschiedet, mit denen sie sich auch für den Fall eines ungeregelten Austritts Großbritanniens gut gerüstet sieht. Zuletzt hatten die Mitgliedstaaten erst vor zwei Wochen Maßnahmen beschlossen, die die Ausführung und Finanzierung des EU-Haushalts 2019 betreffen. Die damit verbundenen Risiken sind zwar für das laufende Haushaltsjahr nicht besonders groß, aber dennoch gilt es, den möglichen Ausfall von Budgetgeldern in zahlreichen Bereichen – von der Forschung bis hin zur Landwirtschaft – abzumildern.So ganz einig ist man sich allerdings auch in der EU-27 nicht, ob die Vermeidung eines ungeregelten Austritts nun oberstes Gebot sein sollte oder nicht. Auf politischer Ebene tritt unter anderem Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schon seit Monaten für eine harte Haltung ohne weitere Kompromisse ein. Beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung hieß es dazu gestern: “Die einzig schlechtere Option als ein ungeordneter Brexit wäre wohl nur eine sich weiter hinziehende Hängepartie und eine chronisch werdende Ungewissheit für Unternehmen und Haushalte.” Und auch in der Wirtschaft werden Rufe nach einem “klaren Zeitplan” lauter.Andere, wie Gabriel Felbermayr, Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, fordern dagegen Zugeständnisse der EU: Das Austrittsabkommen sollte nach Ansicht des Ökonomen in ein langfristiges Handelsabkommen eingebunden werden, das auf eine erweiterte Zollunion mit Stimmrechten für Großbritannien hinauslaufen sollte. Ökonomen für Kompromisse”Dafür muss die EU endlich strategisch vorgehen, das heißt, vom Dogma der Untrennbarkeit der vier Freiheiten abrücken und dem Vereinigten Königreich und in gleicher Weise auch der Schweiz die maximale wirtschaftliche Integration, die ohne politische Union machbar ist, anbieten”, so Felbermayr. Auch Achim Wambach, Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung, rät der EU, jetzt auf den neuen starken Mann in London zuzugehen. Dass mit Johnson ein Vertreter der Austrittsbewegung Premierminister werde, könne eine Chance für den Brexit-Prozess sein, so Wambach. Dieser müsse sich nämlich anders als May nicht gegen die Opposition aus dem Brexit-Lager wehren und werde ein Austrittsabkommen möglicherweise leichter durch das Parlament bekommen. “Die Europäische Kommission sollte diese Chance nutzen.”Die deutsche Wirtschaft sieht auf jeden Fall eine steigende Gefahr, dass es Ende Oktober einen Chaos-Brexit gibt – auch wenn es noch die Hoffnung gibt, dass sich Johnsons Politik von seiner bisherigen Rhetorik unterscheidet, wie etwa Thilo Brodtmann, der Hauptgeschäftsführer des Maschinenbauverbands VDMA, betonte. Und der Bundesverband der Deutschen Industrie gibt dem neuen britischen Premier noch zur Warnung mit auf den Weg: Drohungen, ungeordnet aus der EU auszuscheiden, “sind schädlich und kommen wie ein Bumerang zurück”.