Kurz vorm Crash: Der Kollisionskurs von EU und Schweiz
Von Andreas Heitker, BrüsselGestern war die letzte Sitzung der EU-Kommission in diesem Monat. Über die Schweiz wurde nicht noch einmal gesprochen – und das, obwohl es nur noch wenige Tage bis zum 30. Juni sind, also dem Tag, an dem die Börsenäquivalenz ersatzlos ausläuft und die EU-Schweiz-Beziehungen damit wohl einen neuen Tiefpunkt erfahren. Noch ist es offiziell zwar noch nicht so weit. In Brüssel ist die EU-Kommission aber der Meinung, alles sei gesagt. Und der zuständige österreichische Kommissar Johannes Hahn hat in der letzten Woche schon in einem Brief an Jean-Claude Juncker geschrieben, ein Auslaufen der Börsenäquivalenz sei möglicherweise der Warnschuss, den die Schweiz jetzt brauche.Dabei geht es in dem Streit zwischen Brüssel und Bern eigentlich gar nicht um die Gleichwertigkeit der Börsenregeln, sondern um ein neues Rahmenabkommen zwischen beiden Seiten, das die Beziehungen grundsätzlich neu regeln soll. Das Abkommen liegt nach viereinhalb Jahren Verhandlungen seit November auf dem Tisch. Aber die Schweiz ziert sich noch immer, es zu unterzeichnen. Die Äquivalenz war von EU-Seite bislang lediglich als Druckmittel genutzt worden.Eigentlich ist die Schweiz heute so eng mit der EU verwoben wie kein anderes Land außerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR). Alles begann schon 1972 mit einem ersten Freihandelsvertrag, in dem Zölle für Industrieprodukte abgeschafft wurden. Seit 1989 haben Versicherungsgesellschaften gleiche Niederlassungsrechte. Und zehn Jahre später folgte das “Bilaterale I”-Paket, das einen erleichterten Zugang zu den Arbeits-, Produkt- und Dienstleistungsmärkten brachte.Mehr als 100 bilaterale Abkommen regeln mittlerweile den Marktzugang für verschiedene Sektoren. Die EU-Exporte in die Schweiz summierten sich 2017 bereits auf 133 Mrd. sfr, die Importe auf 117 Mrd. sfr. Äquivalenz als DruckmittelFür die Schweiz bedeutete das: 71 % der Importe kamen aus der EU, und 53 % der Ausfuhren gingen in die EU. Eine aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt, dass kein anderes Land in Europa so sehr vom EU-Binnenmarkt profitiert wie die Schweiz (siehe Grafik). Bei einer regionalen Betrachtung liegt Zürich mit einem jährlichen Nettogewinn von über 3 500 Euro pro Kopf ganz weit oben und übertrumpft damit selbst die EU-internen Binnenmarkt-Profiteure Luxemburg und City of London deutlich.Dennoch gab es immer wieder Unmut in den europäischen Institutionen über den Partner, denn es fehlte ein Mechanismus, mit dem neue EU-Regeln automatisch auch in der Schweiz Anwendung finden. Es gab keine Möglichkeiten, Beihilferegeln durchzusetzen. Und es fehlte vor allem eine geeignete Streitschlichtung, da die Schweizer dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) nicht das letzte Wort zugestehen wollen. Von daher hatte die EU dem neuen Rahmenabkommen – dem Institutional Framework Agreement (IFA) – höchste Priorität gegeben. Es gab 32 Verhandlungsrunden. Allein EU-Kommissionschef Juncker traf sich 23 Mal mit vier aufeinander folgenden Schweizer Präsidenten. Doch statt einer Unterzeichnung des verhandelten Abkommens entschied der Schweizer Bundesrat im letzten Dezember erst einmal, noch weitere Konsultationen zu starten, die bis April andauerten. Anfang Juni verlangte der Bundesrat dann in einem Brief an Juncker noch die “Klärung” von drei umstrittenen Punkten: staatliche Beihilfen, Lohnschutz und Unionsbürgerrichtlinie.Die darauf folgenden Gespräche verliefen aber unbefriedigend. Und EU-Kommissar Hahn musste feststellen: “Unglücklicherweise habe ich den deutlichen Eindruck, dass die Schweizer Regierung seit unserer politischen Verständigung im vergangenen Jahr auf Zeit spielt.” Denn für die Kommission ist in dem Streit klar: Nachverhandlungen soll es nicht geben. Und zudem gebieten die Brexit-Verhandlungen eine gewisse Härte: Schließlich will man sich nicht den Vorwurf gefallen lassen, mit zweierlei Maß zu messen und den Eidgenossen einen maßgeschneiderten Zugang zum Binnenmarkt zu bieten, der gegenüber London als “Rosinenpickerei” abgelehnt wird. Bern spielt auf ZeitJuncker will eine Unterschrift unbedingt noch in seiner Amtszeit, also bis spätestens Ende Oktober. Eine Lösung wird aber durch die Parlamentswahl in der Schweiz am 20. Oktober erschwert. Im Vorfeld will eigentlich keine Partei das eher unpopuläre Thema EU groß auf die Agenda hieven. Auch die Verquickung der Schweiz in zahlreiche andere EU-Politikfelder – von der Sicherheitspolitik über die Teilnahme am Forschungs- und Bildungsprogramm “Horizon 2020” bis hin zu Einzahlungen von Kohäsionsgeldern in den EU-Haushalt – macht die Verständigung nicht leichter.Läuft die Börsenäquivalenz am Sonntag tatsächlich aus, können keine Schweizer Aktien mehr in der EU gehandelt werden. Die Schweiz hatte schon im Januar für den Fall Gegenmaßnahmen verkündet. Die Börsen haben sich mittlerweile auf das Szenario eingerichtet. Welche Folgen der Crash aber für die politischen Beziehungen der EU mit der Schweiz haben wird, ist längst noch nicht klar.