Lagarde liebäugelt mit Fed-Strategie

EZB-Präsidentin öffnet Tür für Überschießen des Inflationsziels - Issing übt Kritik an US-Vorstoß

Lagarde liebäugelt mit Fed-Strategie

Erstmals seit 2003 überprüft die Europäische Zentralbank (EZB) groß angelegt ihre Strategie. Auch die diesjährige ECB Watchers Conference stand ganz im Zeichen dieser Überprüfung. EZB-Chefin Christine Lagarde sprach über die Option eines flexibleren Inflationsziels wie in den USA. Die Meinungen dazu sind geteilt.ms Frankfurt – EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat Sympathie für den historischen Strategieschwenk der US-Notenbank Fed hin zu einem durchschnittlichen Inflationsziel erkennen lassen – also für den Ansatz, nach Jahren unterhalb des Inflationsziels von rund 2 % zeitweise eine Teuerung oberhalb dieser Marke zu tolerieren oder gar anzustreben. Lagarde äußerte sich gestern bei der jährlichen ECB Watchers Conference in Frankfurt. In die gleiche Richtung hatte zuvor bereits Frankreichs Notenbankchef François Villeroy de Galhau argumentiert. Bundesbankpräsident Jens Weidmann dagegen scheint skeptischer. EZB steht unter DruckLagarde verwies in ihrer Rede darauf, dass eine solche “Nachholstrategie”, wenn glaubwürdig umgesetzt, die Fähigkeit der Zentralbanken stärken könne, in Zeiten einer bereits ultralockeren Geldpolitik die Wirtschaft zu stabilisieren: “Das liegt daran, dass das Versprechen eines Überschießens der Inflation die Inflationserwartungen erhöht und somit die Realzinsen senkt.” Deswegen sollte die Nützlichkeit dieses Ansatzes geprüft werden. Zugleich betonte sie aber generell, dass es für Schlussfolgerungen zu früh sei. Die EZB überprüft erstmals seit 2003 ihre Strategie; Ergebnisse will sie in der zweiten Jahreshälfte 2021 vorlegen.Die Aussagen von Lagarde sind die bislang klarste Ansage aus der Europäischen Zentralbank (EZB) nach dem Strategieschwenk der Fed. Statt jedes Jahr aufs Neue 2 % anzuvisieren, will die Fed nun über einen bestimmten Zeitraum im Schnitt 2 % anstreben und Verfehlungen in der Zukunft ausgleichen. Konkret läuft das nach Jahren unterhalb des 2-Prozent-Ziels auf Jahre mit Raten oberhalb von 2 % hinaus. Damit hat auch der Druck auf andere Notenbanken zugenommen, ihre Strategie zu überdenken und sich zu überlegen, wie die Geldpolitik womöglich noch länger locker bleiben kann.Lagarde sagte gestern, dass einige Zentralbanken angesichts des seit Jahren anhaltenden Niedriginflationsumfelds überlegten, ein “rückwärts gerichtetes Element” in ihre Strategie aufzunehmen. Im Fall der EZB bedeute der Verweis auf die zugrundeliegende Inflationsdynamik, dass sie bei ihren Entscheidungen die Vergangenheit bereits berücksichtige. Jetzt gehe es aber um die Frage, ob Zielverfehlungen explizit ausgeglichen werden sollten. Das sei zwar weniger erfolgreich, falls die Wirtschaftsakteure nicht völlig rational handelten. Trotzdem gebe es Vorteile und deswegen sei es sinnvoll, sich das genau anzuschauen.Ende vergangener Woche hatte EZB-Ratsmitglied Villeroy de Galhau bereits gesagt, dass die EZB die Vergangenheit nicht ignorieren könne: “Infolgedessen könnten wir bereit sein, für einige Zeit eine Inflation von mehr als 2 % zu akzeptieren, ohne mechanisch eine Straffung unseres geldpolitischen Kurses auszulösen.” Das sei ex ante zwar kein “Average Inflation Targeting” wie nun bei der Fed, das Ergebnis sei ex post aber das Gleiche (vgl. BZ vom 26. September). Das wiederholte er auch gestern bei der ECB Watchers Conference.Bundesbankpräsident Weidmann dagegen klang bei derselben Konferenz skeptischer. Er hob vor allem hervor, dass die EZB kein duales Mandat wie die Fed mit Preisstabilität und Vollbeschäftigung habe: “Das ist ein Grund dafür, dass die Entscheidungen, die die Fed in Bezug auf ihre geldpolitische Strategie trifft, nicht einfach auf den Euroraum übertragen werden können.” Er sagte aber, dass der Fed-Schwenk die EZB-Überlegungen bereichern könnte.Bei den auf der Konferenz diskutierenden Geldpolitikexperten und Volkswirten stieß das Fed-Vorgehen auf ein geteiltes Echo. Während einige Lob äußerten und der EZB dazu rieten, dem Vorbild zu folgen, mahnte beispielsweise Ex-EZB-Chefvolkswirt Otmar Issing zur Vorsicht. So sei etwa analytisch nicht zu erkennen, warum diese Strategie die Inflationserwartungen besser bei 2 % stabilisieren sollte. Der Frankfurter Staats- und Notenbankrechtler Helmut Siekmann warnte gar, dass eine solche Strategie wohl nicht mit dem EU-Vertrag vereinbar sei. Das Bundesverfassungsgericht könne das womöglich “nicht akzeptieren”. Lagarde will ein simples ZielMit Blick auf das Inflationsziel der EZB – mittelfristig “unter, aber nahe 2 %” – sagte Lagarde, dass dieses angesichts der Lehren der vergangenen Jahre überprüft und notfalls angepasst werden müsse. Entscheidend sei, dass das Ziel glaubwürdig und für die Öffentlichkeit leicht zu verstehen sei. Es müsse auch sichergestellt werden, dass es als symmetrisch angesehen werde. In Notenbankkreisen wird diskutiert, das Ziel auf 2 % festzuschreiben und das symmetrisch zu verstehen, dass also Abweichungen nach oben wie nach unten in gleicher Weise bekämpft werden.