Lange Schatten über Indiens Wirtschaft

Die Corona-Pandemie verstärkt die ohnehin großen Probleme für die größte Demokratie der Welt

Lange Schatten über Indiens Wirtschaft

Von Ernst Herb, HongkongKein anderer bedeutender Aktienmarkt der Welt hat so stark auf den Ausbruch der Corona-Pandemie reagiert wie die Börse Mumbai. Vom historischen Höchststand von 41 952 Mitte Januar ist Indiens Hauptindex BSE Sensex zeitweise um beinahe 40 % eingebrochen. Noch spektakulärer als der Schwächeanfall der Börse war Ministerpräsident Narendra Modis Umgang mit Covid-19. Am 25. März kündigte er aus dem Blauen heraus an, dass zur Eindämmung der Pandemie ab Mitternacht das gesamte öffentliche Leben Indiens für 21 Tage zum Stillstand gebracht werde. Die Gründe sind ersichtlich: Indien ist mit seiner großen Wohndichte, seinem denkbar schlecht ausgebauten Gesundheitssystem und vor allem auch Millionen von entwurzelten Wanderarbeitern für eine Pandemie besonders anfällig. Doch statt eines geordneten Rückzugs der Bürger in ihre vier Wände löste Modis Rede eine Massenflucht über Nacht arbeitslos gewordener Migranten in ihre Heimatdörfer aus – zu Fuß, weil der Bahnverkehr eingestellt ist.Die Coronakrise trifft die weltgrößte Demokratie mit ihren 1,3 Milliarden Bewohnern zu einem besonders verwundbaren Zeitpunkt. Im Zeitraum von Oktober bis Dezember ist das Bruttoinlandsprodukt mit 4,7 % gegenüber demselben Zeitraum 2018 so langsam wie seit beinahe sieben Jahren nicht expandiert. Die Ratingagentur Moody’s ging zuletzt davon aus, dass die Wirtschaft 2020 gerade noch um 2,5 % expandieren wird. Das steht im starken Kontrast zu 2016, als Indiens Bruttoinlandsprodukt noch über 8 % zulegte und das Land damit die weltweit am schnellsten wachsende größere Volkswirtschaft war.Regierung und Notenbank haben auf den Konjunktureinbruch mit zunehmend starken Stimulierungsmaßnahmen reagiert. Die Reserve Bank of India hat Ende März den Leitzins in einer außerplanmäßigen geldpolitischen Sitzung um 75 Basispunkte auf noch 4,4 % gesenkt. Und das, obwohl sich die Inflationsrate im Februar auf 5,6 % belaufen hat. Durch all das drohen nicht nur die Ausgaben der öffentlichen Hand aus dem Ruder zu laufen, sondern fatalerweise gleichzeitig auch indische Anleihen weniger attraktiv zu werden. Nach Einschätzung der Ratingagentur Fitch könnten im laufenden Finanzjahr die Staatsausgaben um 22 % steigen und sich damit das Budgetdefizit auf beinahe 7 % ausweiten. Zahlungsbilanzkrise drohtIndien, das mit einem notorischen Zahlungsbilanzdefizit kämpft und damit auf den ständigen Zufluss von ausländischen Portfolioinvestitionen angewiesen ist, hat sich mit dem Herauffahren der Staatsausgaben und der gleichzeitigen Politik des billigen Geldes auf einen gefährlichen Pfad begeben. Sollte die Regierung weitere Fehler machen, droht dem Land wie in den vergangenen Jahrzehnten gleich mehr als einmal eine Zahlungsbilanzkrise.Denn die drittgrößte asiatische Volkswirtschaft hat mit einer ganzen Reihe hausgemachter wirtschaftlicher und politischer Probleme zu kämpfen. Dazu zählt etwa das bis heute nicht voll verkraftete Demonetarisierungsprogramm, durch das Ende 2016 gleichsam über Nacht 90 % des Bargelds aus der Zirkulation genommen wurden. Das Bankensystem befindet sich in einem schlechten Zustand. Nachdem Mitte 2019 das Schattenbankensystem einen Schwächeanfall erlitt, musste sich vergangenen Monat die unter einer riesigen Last fauler Kredite ächzende Yes Bank unter das rettende Dach der indischen Notenbank retten. Jüngst sorgte Indien auch durch Pogrome hindunationalistischer Fanatiker gegen Muslime für internationale Schlagzeilen. Das zunehmend vergiftete innenpolitische Klima ist nicht zuletzt auch das Resultat eines jüngst vom Parlament verabschiedeten neuen Nationalitätengesetzes, das aus indischen Muslimen Bürger zweiter Klasse gemacht hat.All das hat bereits vor Corona einen langen Schatten über das Investitionsklima geworfen. Selbst wenn Indien von einer größeren Gesundheitskrise verschont bliebe, könnten Investoren nicht aufatmen. Denn die Anfang des Jahres gerade auch im historischen Vergleich hohen Bewertungen indischer Aktien waren angesichts der bereits seit längerem schwächelnden Konjunktur und einer nachlassenden externen Nachfrage nicht gerechtfertigt.