LEITARTIKEL

Lebbe geht weiter

Wenn Theresa May heute zu Beratungen mit den übrigen EU-Staats- und Regierungschefs nach Brüssel kommt, wird sie hier wenig Gelegenheit bekommen, beim Thema Brexit noch einmal zu punkten. Drei Tage nach dem Start ist der öffentliche Fokus zwar noch...

Lebbe geht weiter

Wenn Theresa May heute zu Beratungen mit den übrigen EU-Staats- und Regierungschefs nach Brüssel kommt, wird sie hier wenig Gelegenheit bekommen, beim Thema Brexit noch einmal zu punkten. Drei Tage nach dem Start ist der öffentliche Fokus zwar noch immer auf die Austrittsgespräche gerichtet. Die Haltung der EU 27 ist in diesem Punkt aber sehr klar und eindeutig: Doppel- oder Parallelverhandlungen sollen tunlichst vermieden werden. Denn dies würde nur Chefunterhändler Michel Barnier in die Parade fahren und ihn schwächen.Die britische Premierministerin wird sich auf dem Gipfeltreffen heute daher mit einem kurzen Statement (ohne weitere Diskussion) begnügen müssen, in dem sie aus ihrer Sicht die Folgen der Unterhauswahl auf die Austrittsgespräche präsentieren wird. Wenn es dann am späten Abend nach dem Dinner in Sachen Brexit noch einmal interessant und auch Barnier ein erstes Fazit des Verhandlungsauftakts ziehen wird, dann wird Theresa May die Runde längst verlassen haben. Bei den Treffen im sogenannten “Artikel-50-Format” ist sie nicht erwünscht.Mit dem Ausblenden des Brexit auf dem eigentlichen Gipfel will die EU 27 noch ein weiteres deutliches Zeichen setzen: Der anstehende Austritt Großbritanniens wird zwar immer noch bedauert. Aber es gibt auch wichtigere Themen, so die Lesart. “Lebbe geht weiter”, wie einst ein Frankfurter Fußballphilosoph gesagt hat. Dies ist mittlerweile auch das zentrale Motto in Brüssel. Das heißt: Die Gestaltung der Zukunft der Europäischen Union angehen. Und dabei weiter als bis März 2019 schauen, wenn Großbritannien nach mehr als 40 Jahren die Gemeinschaft verlassen wird.Der Gestaltungswille in Kommission und Rat ist spürbar, und er hat viel mit einem neuen Selbstbewusstsein in Brüssel zu tun. Das lethargische Erstarren, das die Institutionen noch im vergangenen Jahr angesichts der populistischen Bedrohung erfasst hatte, scheint überwunden. Die offen auftretenden EU-Feinde wurden in den jüngsten Wahlen in ihre Schranken verwiesen. Die Zustimmung zur EU in der Bevölkerung ist wieder etwas gestiegen, was sicherlich auch mit dem Auftreten des US-Präsidenten Donald Trump zu tun hat. Und die Wiederbelebung der deutsch-französischen Achse nach dem Wahlsieg Emmanuel Macrons setzt aktuell ganz neue Reformfantasien frei. EU-Ratspräsident Donald Tusk fasste den Stimmungswandel ganz gut in seinem Einladungsschreiben zu dem für heute und morgen anberaumten Gipfel zusammen: Wir seien Zeugen der Rückkehr einer EU, schrieb er dort sehr optimistisch, die wieder eher als Lösung und weniger als Problem wahrgenommen werde.Die Besinnung auf neue Prioritäten, die in Brüssel stattgefunden hat, prägt das jetzige Treffen der Staats- und Regierungschefs. Es geht im Wesentlichen um Jobs und eine Stärkung der inneren und äußeren Sicherheit. Es geht also um Antworten auf die drei großen Krisen der jüngsten Dekade, die die EU zeitweise in den Grundfesten erschüttert haben: die Euro-, die Migrations- und die Terror-Krise.Die Umsetzung dieser Antworten wird nicht in jedem Fall einfach sein. Beim Thema Verteidigung, das bei der Daten- und Internetsicherheit beginnt, die Forschungsförderung über einen eigenen Fonds einschließt und bis hin zu einer gemeinsamen Beschaffungspolitik geht, gibt es zwar eine breite Übereinstimmung in den Mitgliedstaaten. Hier ist der europäische Mehrwert auch deutlich zu greifen. Aber schon bei der weiteren Ausgestaltung einer europäischen Asylpolitik ist eine Verständigung derzeit kaum vorstellbar. Nicht von ungefähr sitzen zurzeit Polen, Ungarn und Tschechien auf der Anklagebank und erwarten ein EU-Vertragsverletzungsverfahren, weil sie sich der gängigen europäischen Solidarität verweigern. Auch in der Wirtschafts- und Finanzpolitik sind die innereuropäischen Gräben nach wie vor tief – auch wenn die Reformbereitschaft in einigen Ländern deutlich gestiegen ist.Beim Thema Brexit demonstrieren die verbleibenden 27 Staaten dagegen eine Einigkeit, wie sie in der EU zuletzt selten zu sehen war. Wie lange diese Geschlossenheit hält, wird noch eine spannende Frage, gilt es doch unter anderem, die EU-Finanzen für die Zeit nach dem britischen Ausscheiden neu zu ordnen. Auch die Umsiedlung der in London beheimateten EU-Behörden – über die ebenfalls heute Abend noch diskutiert wird – birgt noch einiges an Streitpotenzial in sich. In der Vergangenheit hat das Lösen von Standortfragen in der EU auch schon mal bis zu fünf Jahre gedauert.——–Von Andreas HeitkerDie EU hat ihre Lethargie überwunden und zeigt mittlerweile wieder einen ganz neuen Gestaltungswillen. Der Brexit ist dabei nicht das beherrschende Thema.——-